1.4.2 Alice Salomon (1872–1948)
Alice Salomon hat mit ihrem umfangreichen wissenschaftlichen Werk und mit ihrem persönlichen Engagement die Soziale Arbeit als professionellen Berufszweig in Deutschland wie kaum jemand sonst beeinflusst. Zugleich gab sie für Praxis, Theorie und Ausbildung in der Sozialen Arbeit wegweisende Impulse, die im Professionalisierungsprozess der Sozialen Arbeit als Berufszweig bis heute ihre Spuren hinterlassen haben (vgl. Landwehr/Baron 1983; Wieler 1983/1987; Müller, C. W. 1985; Engelke et al. 2014; Feustel 1997/2000/2004; Kuhlmann 2000/2007). Sie ist die Pionierin der Sozialen Arbeit als gesellschaftliche Reformbewegung. Und sie gilt als Gründerin des sozialen Frauenberufes und Repräsentantin der Frauenbewegung. Ziel von Salomon war es, eine Einbindung der bürgerlichen Mädchen und Frauen in die soziale Hilfearbeit zu ermöglichen, um sie qualifiziert auf die verantwortungsvolle Tätigkeit in der Sozialen Arbeit vorzubereiten und sie gleichzeitig an gesellschaftlichen Reformen zu beteiligen.
Leitgedanke
Leitmotiv war die Erkenntnis, dass aus Lernenden Lehrende und Erziehende werden würden, um ihren Teil der Verantwortung für die Leistung der Gesamtheit zu übernehmen (Braches-Chyrek 2013, 213–246). Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist der Entwicklungsstand einer modernen Gesellschaft. Je entwickelter und vielseitiger die Kultur einer Gesellschaft ist, so Salomon, desto weniger werden alle seine Mitglieder imstande sein, mit den herrschenden Ideen, Vorstellungen und Anforderungen Schritt zu halten; desto größer wird die Zahl derer, die sich nicht anpassen können; desto geringer werden die Möglichkeiten natürlicher, familienhafter, nachbarschaftlicher Hilfe und Förderung.
In der Industriegesellschaft entsteht andauernd Not durch Ursachen, auf die der Einzelne kaum Einfluss hat, die durch gesellschaftliche Umstände bedingt sind. Die Not kann viele Gesichter haben: wirtschaftliche, geistig-sittliche, gesundheitliche und im einzelnen Menschen liegende Ursachen. Um Hilfe zu gewähren, sind Wohlfahrt und Wohlfahrtspflege notwendig. Wohlfahrt und Volkswohlfahrt werden durch politische Maßnahmen angestrebt.
Unter Wohlfahrtspflege versteht Salomon „die planmäßige Förderung der Wohlfahrt von Bevölkerungsgruppen in Bezug auf solche Bedürfnisse, die sie nicht selbst auf dem Weg der Wirtschaft befriedigen können, und für die auch nicht deren Familien oder der Staat durch allgemeine öffentliche Leistungen sorgt“ (Salomon zitiert nach Engelke et al. 2014, 244).
Ziele
Ziel der Wohlfahrtspflege ist die bestmögliche Entwicklung der ganzen Persönlichkeit durch bewusste Anpassung des Menschen an seine Umwelt, aber auch umgekehrt, Anpassung der Umwelt an die besonderen Bedürfnisse und Kräfte des betreffenden Menschen (Engelke et al. 2014, 247).
Salomon geht es darum, dass die Wohlfahrtspflege – etwas moderner ausgedrückt –:
1. die vorhandenen Kräfte der KlientInnen nach Möglichkeit fördert und entwickelt,
2. die vorhandenen Ressourcen erhält und schützt, der Entstehung sozialer Problemlagen möglichst präventiv begegnet,
3. zufrieden stellende Lebenssituationen nach Möglichkeit mit wiederherstellen hilft, die sozialen und individuellen Probleme gemeinsam mit den KlientInnen bearbeitet,
4. wo Veränderungen nicht mehr möglich sind, eine Grundversorgung anbietet und sicherstellt.
Um diese Ziele zu erreichen, war für die Sozialreformerin Alice Salomon die Grundlage allen Helfens die Erstellung von sozialen Diagnosen. „Soziale Diagnose“ nennt sie deshalb auch ihr 1926 erschienenes erstes Lehrbuch für die Fürsorgeausbildung in Deutschland. Es ist somit das erste Fachbuch für die Profession überhaupt geworden. In sozialen Diagnosen sollen im Gegensatz zu medizinischen Diagnosen alle wichtigen psychosozialen Daten mit den KlientInnen zusammen erhoben werden.
Phasenmodell
Weiterhin entwickelte sie ein Phasenmodell professionellen Helfens, das sechs Schritte vorsieht:
■ Erkundigungen einziehen,
■ Ressourcenermittlung in der Lebenswelt,
■ stellvertretende Deutung,
■ Hilfeplan erstellen,
■ Interventionen,
■ Evaluation (Stimmer 2012, 273).
erste Soziale Frauenschule 1908
Entscheidend für diese Aufgaben der Wohlfahrtspflege waren für Salomon dafür ausgebildete soziale Fachkräfte. 1908 gründete Salomon im Berliner Pestalozzi-Fröbelhaus schließlich die erste zweijährige, überkonfessionelle Soziale Frauenschule in Deutschland und wurde bis 1927 deren erste Direktorin. Sie war aber nicht nur die Gründerin der ersten Ausbildungsstätte, sondern ab 1925 auch der ersten Weiterbildungsinstitution für die Fürsorgerinnen der „Deutschen Akademie für Soziale und Pädagogische Frauenarbeit“. 1929 gründete sie auch das wegweisende „Internationale Komitee Sozialer Frauenschulen“.
Das entscheidend Neue in der Wohlfahrtspflege war die Aufteilung in zwei öffentliche Funktionsbereiche: Sozialpolitik, die zuständig war für die „äußere“, materielle Not des Menschen und die Wohlfahrtspflege, die für die „innere“ Seite, die Not der Ansprechpartner war. Man ging nicht mehr davon aus, welche Schwierigkeiten eine Person machte, sondern welche sie hatte.
Alice Salomon hatte diese Überlegungen wissenschaftlich zusammengefasst und 1908 die erste zweijährige, überkonfessionelle „Soziale Frauenschule“ in Berlin und 1925 die „Deutsche Akademie für Soziale und Pädagogische Frauenarbeit“ als erste Fortbildungsinstitution für die Fürsorgerinnen gegründet. Sie ist mit dem „Internationalen Komitee Sozialer Frauenschulen“ dann auch die ersten Schritte hin zu einer Internationalisierung der Sozialen Arbeit gegangen.
1.5 Volkspflege im Nationalsozialismus (1933–1945)
NS-Volkswohlfahrt
Zum Ende der Weimarer Republik waren in Deutschland Millionen Menschen ohne Arbeit, mit den katastrophalen Folgen gesellschaftlicher Verelendung, die sich auch verheerend auf die Sozialpolitik und das Fürsorgesystem auswirkten. Die Stoßrichtung der einsetzenden Sozialpolitik der nationalsozialistischen Parteidiktatur zielte zunächst auf die Einrichtung von Arbeitsbeschaffungsprogrammen und der schrittweisen politischen Gleichschaltung, bzw. auch der Zerschlagung der öffentlichen und privaten Fürsorgestrukturen der Republik. Zu den ersten organisatorischen Schritten der nationalsozialistischen Wohlfahrtspflege gehörte bereits 1932 die Gründung einer eigenen Wohlfahrtsorganisation, die „Nationalsozialistische Volkswohlfahrt“ (NSV). Das gesamte Wohlfahrtswesen aus der Weimarer Republik wurde über einen enthumanisierenden „Paradigmenwechsel“ nach und nach von der NSV übernommen. Dies bedeutete, dass die „Für“Sorge durch staatlich organisierte „erb- und rassenbiologische“ Maßnahmenkataloge zur „Volks“Pflege, d. h. zur „Erb- und Rassenpflege“ wurde. Den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden blieb lediglich die Sorge für die so genannten „Minderwertigen“ (Kriminelle, Obdachlose, Arbeitsscheue, Erbkranke, Anstaltsinsassen aller Art) (Mason 1977; Kramer 1983; Baron 1983/86; Vorländer 1988; Zeller 1994).
Die nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) verfolgte drei Hauptziele:
Ziele
1. Reduzierung von öffentlicher (materieller) Fürsorge: Die Fürsorge während der Weimarer Zeit sei zu großzügig gewesen und die Unterhaltsmittel falsch verteilt worden. Vorsorge müsse