Seit etwa 1820 verläuft die industrielle Revolution in einem rasanten Tempo. Die rapide Umgestaltung Deutschlands zu einer Industriegesellschaft nach der Reichsgründung (1871) hatte weitreichende soziale Folgen. Gab es zu Beginn des Jahrhunderts etwa 300.000 Fabrikarbeiter, so waren es 1872 bereits sechs Millionen und um 1900 sogar zwölf Millionen.
sozioökonomischer Strukturwandel
Sachße und Tennstedt belegen den sozioökonomischen Strukturwandel dieses Jahrhunderts mit empirischen Daten:
1. Um 1750 lebten in Deutschland um 16–18 Millionen Einwohner, um 1900 waren es 56 Millionen.
2. Um 1800 lebte der größte Teil der Bevölkerung auf dem Lande. Von den 1016 Städten waren 998 noch typische Ackerbürgerstädte, d. h. Einwohner, die von landwirtschaftlichen Betrieben lebten. 1910 hatten 66 % der Bevölkerung ihren Wohnsitz in der Stadt (Sachße/Tennstedt 1980, 179–180).
3. „Die Anteile der Beschäftigten innerhalb der einzelnen Wirtschaftssektoren verschoben sich entscheidend vom primären Sektor (Landwirtschaft, Gartenbau, Forstwirtschaft, Fischerei) zum sekundären Sektor (Industrie, Handwerk, Verlag, Bergbau, …) und tertiären Sektor (Dienstleistung, Handel, Verkehr, Banken, …). 1800 waren von 10,5 Mio. Beschäftigten 62 v. H. im primären, 21 v. H. im sekundären und 17 v. H. im tertiären Wirtschaftssektor beschäftigt, 1914 waren von 31,3 Mio. Beschäftigten 34 v. H. im primären Sektor, 38 v. H. im sekundären und 28 v. H. im tertiären Sektor beschäftigt.“ (Sachße/Tennstedt 1980, 179 f.)
Die städtischen Ballungszentren boten ein Bild der Armut, des Elends und der Verwahrlosung. Industrie und Markt brachten nicht Harmonie und Wohlstand, sondern spalteten die Gesellschaft.
Das Bevölkerungswachstum war für den Übergang vom agrarisch-handwerklichen zum kapitalistisch-industriellen Wirtschaftssystem, für die Wandlungen im Bereich von Armut und Armenwesen deshalb von entscheidender Bedeutung, weil zunächst die Bevölkerung schneller wuchs als die Wirtschaft (Sachße/Tennstedt 1980, 181).
Einstellung zu den Armen
Bezüglich der Armenfürsorge handelte der Staat weniger im Interesse der Armen, als vielmehr in seinem eigenen Interesse. Die Einstellung zu den Armen fassen Christoph Sachße und Florian Tennstedt in drei Punkten zusammen:
1. Die Armen hatten keinen Rechtsanspruch auf Unterstützung. Die Unterstützung galt mehr im Sinne Polizeirecht vor Fürsorgerecht. Es ging um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, um Gefahrenabwehr.
2. Die Armen, d. h. wer öffentliche Hilfe in Anspruch nahm, war von der Mitwirkung an den drei Gewalten des konstitutionellen Rechtsstaates (Legislative, Exekutive, Judikative) ausgeschlossen.
3. Neben diesen allgemeinen diskriminierenden Beschränkungen der Armen konnten die einzelnen Staaten des Deutschen Reiches weitere, ergänzende Eingriffe vornehmen. So durften z. B. in Bayern Ordnungskräfte die Wohnung der Armen jederzeit betreten, in Sachsen über Tun und Lassen im häuslichen Leben Rechenschaft fordern (Sachße/Tennstedt 1980, 212 f.). Arme mussten die ihnen zugewiesene Arbeit verrichten, im Weigerungsfall wurden Arbeitsscheu unterstellt und Haftstrafen verhängt.
Bettelvögte, Armenpfleger
Interessant ist aus heutiger Sicht, dass bis zu Beginn des 20. Jahrhundert die Versorgung wie auch die Disziplinierung und Kontrolle Hilfsbedürftiger durch öffentliche Armenverwaltungen nicht von Frauen, sondern ausschließlich von Bürgern mit Wahlrecht, also nur von ehrenamtlich tätigen Männern durchgeführt werden durften. In der Regel waren es ausgediente Soldaten oder Polizeidiener, welchen die Verteilung von Almosen übertragen wurde. Sie erhielten für ihre Tätigkeit etwa ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von den Kommunen eine – mal mehr, mal weniger hohe – Aufwandsentschädigung. Man bezeichnete diese Tätigkeit regional unterschiedlich: Armen- und Bettelvögte, Gassendiener, Almosenknechte, Almosenpfleger, Kostendiener, Polizeidiener, Polizeisoldaten, Revierdeputierte, Armeninspektoren oder Armenpfleger. Ehrenwerte Bürger konnten nur dann ehrenamtlich in der Armenfürsorge tätig werden, wenn sie Mitglied eines städtischen Rates waren. Die Armenfürsorge galt dann als bürgerliches Ehrenamt.
1.3.2 Elberfelder Quartiersystem (1867)
Was halten Sie von folgendem Vorschlag, die Armenpflege in Quartieren bzw. Bezirken zu organisieren?
1. Man teilte eine Stadt in Bezirke auf und diese wiederum in Quartiere.
2. Jedem Bezirk stand ein ehrenamtlicher Vorsteher und jedem Quartier ein ehrenamtlicher Pfleger vor.
3. Jeder Pfleger hatte 2–4 Arme zu betreuen.
4. Den Armen sollte durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen geholfen werden.
Frage: Worin sehen Sie Chancen und Probleme bei dieser Form der Neuorganisation der Armenpflege?
Elberfeld (heute: Duisburg) war eine große Industriestadt. Um 1800 hatte sie etwa 12.000 Einwohner, 1852 bereits 50.364 und 1885 schon 106.492. Elberfeld gehörte damit zu den am raschesten wachsenden Fabrikstädten Deutschlands (Landwehr/Baron 1995, 22–26). Das Elberfelder System, von Daniel von der Heydt, Gustav Schieper und David Peters (Armenordnung vom 9. Juli 1852) konzipiert, war zu seiner Zeit das wirksamste und fand in weiten Teilen Deutschlands wie auch im Ausland große Anerkennung und Nachfolger. Es galt bis ins 21. Jahrhundert als Vorbild für die Organisation der Armenpflege. Ziel war es, die zu Armenzwecken verfügbaren Mittel mit größtmöglicher Sparsamkeit einzusetzen. Sachße und Tennstedt fassen die Grundsätze der Organisation und die materiellen Ziele in vier Punkten zusammen:
1. „Ehrenamtliche Arbeit in der öffentlichen Wohlfahrtspflege: Die verantwortliche Armenbehörde stellte eine große Anzahl freiwilliger Helfer und Helferinnen in ihren Dienst, die die Armen aufzusuchen, zu kontrollieren und nach Maßgabe ihres Befundes Unterstützung zu beantragen hatten;
2. Individualisierung der öffentlichen Wohlfahrtspflege: Keinem Armenpfleger sollten mehr als vier Familien oder alleinstehende Arme unterstellt werden, damit gründlich geprüft und kontrolliert werden konnte;
3. Dezentralisierung der öffentlichen Wohlfahrtspflege: Die Armenpfleger sollten nicht als ausführende Organe im Dienste der Stadtverwaltung tätig sein, sondern in den Bezirksversammlungen selbständig Unterstützung beschließen; die Armenverwaltung regelte die Tätigkeit der Pfleger durch genaue Instruktion;
4. Vermeidung von Dauerleistungen: Jede Unterstützung sollte möglichst nur auf 14 Tage bewilligt werden.“ (Sachße/Tennstedt 1980, 215 f.)
Bezirke und Quartiere
Um diese Ziele zu erreichen, war die Stadt Elberfeld in Bezirke eingeteilt, die wiederum in Quartiere unterteilt waren. Jedem Bezirk stand ein ehrenamtlicher Vorsteher, jedem Quartier ein ehrenamtlicher Pfleger vor. Die 60 Quartiere waren so organisiert, dass jeder Pfleger nur 2–4 Fälle pro Hausbesuch und nach vorgedrucktem Fragebogen zu bearbeiten hatte (Hering/Münchmeier 2014, 30–31). Es entstanden die ersten allgemeinen Richtlinien (Vorläufer heutiger Sozial- und Fürsorgegesetze), die von der Verwaltung festgelegt wurden. Die Armenpfleger hatten diese Richtlinien dann in die Praxis umzusetzen (Belardi 1980, 40). Es ging bei diesen Überlegungen nicht darum, die Ursachen der Armut zu ergründen und sie zu bekämpfen, sondern Menschen aus der Armut zu befreien.
Die Wahl der Armenpfleger erfolgte auf Vorschlag der Kirchen. Die Armenpfleger waren im Hauptberuf Handwerker oder Industrielle. Bei der Armenpflege handelte es sich um ein Ehrenamt, das jeder Bürger für drei Jahre übernehmen musste (Kühn 1994, 5 f.).