Die syrische Botschaft in Genf beklagte sich bitterlich über unsere Recherchen, die sich durch »eilig zusammengestellte Aussagen« auszeichne, welche »nur von einer Seite dieses Konflikts« stammten. Das offizielle Syrien warf uns mangelhafte Professionalität, keine sorgfältigen Nachforschungen und Voreingenommenheit vor. Vehement zurückgewiesen wurde auch der Vorwurf, schmutzige Bomben eingesetzt zu haben. Was ich keinesfalls billigen konnte, da wir genügend Beweismittel für »Barrel Bombs« hatten – das sind improvisierte Fassbomben, die aus der Luft abgeworfen werden. Verwendung finden unter anderem alte Heizkessel oder Warmwasserboiler, die mit Sprengmitteln und Metallteilen gefüllt werden. Human Rights Watch (HRW) bezeichnet ihren Einsatz als »mit hoher Wahrscheinlichkeit wahllos im Sinn des Kriegsrechts und damit unzulässig«.
Bombardierungen von Bäckereien fanden vornehmlich in den Morgenstunden statt, wenn es nach frischem Brot duftete. Es konnte kein Zufall sein, dass die Angriffe stets dann stattfanden, wenn die Betriebe voller hungriger Menschen waren. Bestimmten Quellen zufolge waren unter den Bäckereikunden FSA-Kämpfer. In einem Fall hatte der Bäckerei-Betreiber die FSA sogar aufgefordert, die Brotverteilung zu organisieren. Assad-Abtrünnige gaben uns die Namen der Kommandeure der Air Force, die die Bombardements von Bäckereien angeordnet hatten. Menschenschlangen vor Backstuben wurden in Aleppo systematisch unter Feuer genommen. An einem Tag im August wurde eine Bäckerei von einem Artilleriegeschoss getroffen: 11 Menschen, die für Brot anstanden, fanden den Tod. Am 16. August wurden Kunden vor einer Bäckerei mit Mörsern beschossen: 25 Tote.
Am 9. November um 8 Uhr schrien Frauen auf dem Marktplatz von Al Quriyah in Panik auf und suchten Schutz vor den Geschossen, die vom Himmel prasselten. Die Artillerie tötete an diesem Frauen-Markttag 21 Zivilisten. Ein Zeuge sah verstreute Tote mit abgetrennten Gliedern und Köpfen. Ein Körper war »nicht mehr als ein Haufen Fleisch. Diese Leiche vermochte niemand zu identifizieren.«
Am 23. Dezember um 16 Uhr war die Schlange vor der Bäckerei in Halfaya gut 1000 Menschen lang. »Wir hatten seit Tagen kein Mehl erhalten«, sagte ein Einwohner, »und in der ganzen Stadt war kein einziger Laib Brot zu finden. Darum stand praktisch jeder vor der Bäckerei.« Ein Kampfjet schoss mindestens vier Raketen auf sein Ziel ab. Jemand vermochte sich zu erinnern, dass eine Viertelstunde zuvor ein Hubschrauber über dem Platz gekreist war, wohl um es auszukundschaften. Ein Mann aus Halfaya beschrieb die Szene nach dem blutigen Angriff so: »Überall auf der Straße sah ich Leichen von Frauen und Kindern. Die Toten konnten nicht identifiziert waren, so entstellt waren sie.« Für uns war klar, dass es sich um einen gezielten Angriff handelte, trafen doch die vier in schneller Folge abgeschossenen Raketen ausnahmslos die Bäckerei.
Satellitenaufnahmen waren eine große Hilfe bei der Auswertung von Bombardements, etwa im Fall der Bombardierung von Azaz am 15. August durch zwei Kampfjets, was den Tod von 20 Mitgliedern der Familie Danoun zur Folge hatte. Das Muster der Einschläge legte den Schluss nahe, dass es sich nicht um Zufallstreffer handelte. Am 4. August traf eine weitere Fassbombe – sie sind einfacher und billiger herzustellen als Fliegerbomben – das Haus der Familie Elbaw in Tall Rifaat. »Es war unmöglich, die Toten auseinanderzuhalten«, sagte ein Zeuge. Am 10. August tötete die Bombe eines Kampfjets mehrere Bewohner eines Wohnhauses. Anvisiert war wohl die nahe gelegene Schule, da diese von der FSA als Baracke genutzt wurde.
Wir wussten von mindestens 14 Attacken auf Schulen. Die Rebellen hatten sie als Stützpunkte genutzt, womit sie ihren Status als geschütztes Zivilobjekt verloren. Andrerseits wurden mit Sicherheit auch Angriffe auf Schulhäuser befohlen, ohne dass Aufständische sich dort verborgen hielten. Ein Soldat – er desertierte daraufhin – hörte wörtlich den Befehl eines Offiziers, eine Schule nicht zu schonen, »damit sie nicht rausgehen und an Demonstrationen teilnehmen können«.
Tatsächlich geriet die jüngste Generation unweigerlich in diesen Sog des Kriegs. Ein 17-Jähriger vertraute uns Details seiner Tätigkeit für die Al-Nusra-Front an. Erst war er nur Wasserträger, brachte den Kämpfenden Lebensmittel an die Front. Schließlich rüstete man ihn mit einem Gewehr aus, das er auch einsetzte. Er nahm an einem Angriff auf einen Checkpoint teil. Als eine Verwundung seine Beteiligung an weiteren Scharmützeln verunmöglichte, wurde er wie andere Teenager in Haftanstalten als Wächter eingesetzt.
Das Gesundheitswesen war vom Konflikt schwer getroffen. Krankenhäuser wurden unter direkten Beschuss genommen. Ein Mitarbeiter des Dar al-Shifa Hospitals in Aleppo wusste von einem Hubschrauber des Regimes, der neun Raketen auf das Spital abgefeuert hatte. Sicherheitskräfte zwangen das medizinische Personal zu Aussagen über ihre Patienten. Und sie verboten, Kinder zu behandeln, die als Feinde des Regimes geortet wurden. Einem angeschossenen 12-Jährigen empfahlen die Ärzte die Falschaussage, er sei von Terroristen verletzt worden – sonst wäre ihm im Spital nicht geholfen worden. Ein Mann aus Daraa musste erleben, wie ihm der Weg ins Krankenhaus an Checkpoints versperrt wurde. Seine 11-jährige Schwester war beim Bombenangriff auf die Schule schwer verletzt worden. Auf Umwegen durchs Hinterland erreichte der Bruder schließlich das Armeehospital. Obwohl das Mädchen schon das Bewusstsein verloren hatte, verweigerten die Ärzte die Behandlung. Daraufhin versuchte der Verzweifelte noch, ein anderes Lazarett zu erreichen, doch seine Schwester starb auf dem Weg.
Verschiedene Berichte betrafen Personen, die an Checkpoints der Armee malträtiert wurden. Ein Mann hatte das Pech, dass ein regimekritisches Wort in den Staub seines Autofensters geschrieben war. Agenten des Nachrichtendienstes von Mhajjah verabreichten ihm Elektroschocks, bevor er zu ihrer Belustigung auf allen vieren einen Affen imitieren musste. Freigelassen wurde er erst, nachdem er das Autofenster sauber abgeleckt hatte. Ein früherer Mitarbeiter eines Nachrichtendienstes gab zu, dass an Straßensperren sunnitische Berufspendler auf regelmäßiger Basis gedemütigt würden. Ein Ex-Soldat, gefragt nach der Anzahl solcher Vorfälle an Checkpoints, sagte leichthin: »Die kann ich unmöglich alle zählen.«
Beängstigend fand ich persönlich die Depeschen von Massakern. Wahre Kesselschlachten schienen darauf ausgerichtet, ganze Menschengruppen zu vernichten. Und dies mit einer Herzlosigkeit, die mich an den Genozid in Ruanda erinnerte. Wir hatten Informationen aus erster Hand zum Massaker vom 1. August in Jdaidet Artouz, das bevölkert war von einer heterogenen Gruppe sunnitischer Muslime, Christen, Drusen und Alawiten. Auslöser war ein Anschlag von FSA-Kämpfern auf einen hochrangigen Offizier, der in der Nachbarschaft lebte. Als Strafaktion wurde ein Militärschlag gegen das ganze Dorf ausgeführt, mit Panzern und schweren Waffen. Soldaten durchsuchten Haus für Haus. Insgesamt wurden 60 Männer an Ort und Stelle exekutiert. Nahe der Moschee wurde ein Massengrab für sie ausgehoben.
Verschiedene Quellen berichteten uns von Vorfällen in Al Harak, der Heimat von 40 000 Sunniten. Die Menschen verließen den Ort, als am 18. August Regierungstruppen anrückten. Später fanden FSA-Kameraden die Leichen von 400 Zivilisten. Einige waren von Schrapnellen getötet worden, andere aus nächster Nähe durch Schüsse, weitere Tote wiesen Messerstiche auf. Einige der Körper waren verbrannt worden, um die Massentötung zu verschleiern. Die Augenzeugen schrieben es der Schabiha zu, Leichen aus Al Harak weggebracht und beim Hauptquartier der 52. Brigade verscharrt zu haben. Sagte ein FSA-Kämpfer: »Sie versuchten die Leichen zu verstecken, aber wir konnten sie riechen.«
Einst war Al-Mastomah, eine sunnitische Ortschaft der Provinz Idlib, bevölkert von 8000 Menschen. Bis zum 7. Januar dieses Kriegsjahres. Da flohen weite Teile der Bevölkerung vor der Bombardierung durch Regierungstruppen. Dann durchkämmten Soldaten den Ort. Als der Kriegslärm abnahm und unser Augenzeuge die Rückkehr wagte, fand er unzählige Tote, an Ort und Stelle hingerichtet. Die Leichen wurden gefilmt, das Material lag der Kommission vor. Auf den Filmen sind Frauen, Kinder und ältere Menschen zu erkennen – viele aus nächster Nähe exekutiert.
»Es ist wie in einer Geisterstadt«, beschrieb uns ein Bewohner von Taftanaz, »von 20 000 Bewohnern sind kaum noch 200 übrig.« Nach dem intensiven Beschuss der Kleinstadt im Juli und während des Ramadans