Sind schon die Gruppen der Opposition in ihren Ausprägungen schwer zu unterscheiden, so gliederten sich auch die Regierungstruppen in eine Vielzahl von Einheiten. Assads stehendes Heer, das 300 000 Mann starke Militär, teilte sich in Armee, Marine und Luftstreitkräfte auf. Ihr Auftrag war die Verteidigung des nationalen Territoriums und die Abwehr aller internen Feinde. Das Militär bestand aus drei Korps mit 12 Divisionen: sieben gepanzerte, drei mechanisierte sowie die Republikanische Garde und die Spezialeinheiten. Die 10 000 Gardesoldaten, die direkt dem Präsidenten unterstanden, zählten zur Elite. Sie sollten Aufstände von Regimekritikern niederwerfen. Die 20 000 Mann der 4. Division wurden kommandiert von Maher al-Assad, dem Bruder des Präsidenten. Die Staatssicherheit, so wurde berichtet, sei umfassend und effektiv, sie war aufgeschlüsselt in eine Vielzahl von Geheimdiensten, deren Aufträge sich teilweise überlappten. Ihre Beamten spielten in der syrischen Gesellschaft eine weitreichende Rolle, denn sie sollten Verräter orten und Widerstand durch Repressalien im Keim ersticken.
Der interne Staatsapparat schloss die Polizeikräfte ein, die dem Innenministerium unterstanden, sowie den Militärischen Geheimdienst, den Geheimdienst der Air Force und das nationale Büro für Sicherheit. Zur alawitischen Miliz der sogenannten Schabiha gehörten rund 10 000 Zivilisten, die an der Seite der Sicherheitskräfte Demonstrationen zerschlagen sollten. Es hieß, die Fanatiker dieser irregulären Truppe – ursprünglich eine Schmugglerbande – würden Assad in den Tod folgen. Die Volksarmee, eine Miliz der Baath-Partei, wird auf 100 000 Reservisten geschätzt, die mobilisiert werden könnten. Gemäß Verfassung der Republik lag das Oberkommando über alle diese Streitkräfte in der Hand des Präsidenten: Baschar al-Assad hatte die militärische Überlegenheit. Seine Flugzeuge kontrollierten den Luftraum, und seine Artillerie hielt den Gegner am Boden.
Für den ersten Bericht, an dem ich mitwirkte, waren 445 Zeugen befragt worden. Der 130 Seiten schwere Report sollte der umfangreichste der Kommission werden. In diese Seiten legten wir alles, was wir hatten, alles, was wir anführen konnten, um den Sicherheitsrat förmlich zum Handeln zu zwingen. Folter, Vergewaltigung, Entführung, Mord. Verübt von Regierungskräften und den ihnen angeschlossenen Milizen. Ich legte Wert darauf, dass auch die Opposition in den Berichten nicht ungenannt bleiben sollte; über diesen Punkt redeten wir uns oft die Köpfe heiß. Schließlich waren auch die Regimegegner nicht untätig gewesen: Folter, Kidnapping, willfährige Standgerichte mit Todesurteilen. Zusätzlich brachten die Aufständischen die Zivilbevölkerung bewusst in Gefahr, indem sie militärisch wertvolle Ziele in Wohnvierteln platzierten. Die Taten des Regimes zu benennen, war einfacher, und ich merkte, dass uns politische Interessen die Schwerpunkte in den Berichten diktierten. Vor allem zu Anfang genossen die Oppositionsgruppen ja noch die Sympathien der internationalen Gemeinschaft, und einige Staaten betrieben im Hintergrund den »Regime Change«, den politisch motivierten Sturz Assads. Wir kamen nicht umhin, der militanten Opposition zu bescheinigen, dass ihre Angriffe auf Zivilisten nicht mit der Intensität der Regierungstruppen zu vergleichen waren – noch nicht.
Die Situation präsentierte sich in jenen Monaten 2012 wie folgt: Die Revolutionäre hatten sich vermehrt Zugang zu Waffenkammern verschafft und Militärbasen geplündert. Feuerwaffen und Munition wurden in großem Stil von externen Lieferanten über die Grenze geschmuggelt. Angriffe auf Hospitäler sorgten vermehrt dafür, dass das medizinische Personal seine Posten aufgab. Den Krankenhäusern gingen in alarmierender Geschwindigkeit die Vorräte an Blut und Medikamenten aus. Das Hochkommissariat hatte Kenntnis von 60 000 Todesfällen. Zwei Millionen Syrer befanden sich auf der Flucht.
Dem Vorschlag des Sicherheitsrats zur Waffenruhe vom 26. bis 30. Oktober hatten beide Seiten zugestimmt, um während der religiösen Feiertage die Verletzten von den Schlachtfeldern zu bergen – wer sie zuerst brach, blieb unklar. Am 11. November war die Syrische Nationale Koalition gegründet worden, die Gruppen der moderaten Opposition sowie der Freien Syrischen Armee (FSA) vereinte. Mehr als ein Dutzend der bewaffneten Gruppen, darunter die Al-Nusra-Front, anerkannte die Koalition nicht. Am 11. Dezember erklärten die USA die Al Nusra zur terroristischen Organisation, einem Ableger der irakischen Al Kaida. Die FSA selbst war nur noch ein Brand, ein Name – die Bezeichnung als Oberkommando verdiente sie längst nicht mehr. Die Foreign Fighters, die Kämpfer aus dem Ausland, hatten zahlreiche Neuzugänge erhalten. Zynischerweise nannte man sie auch »Wochenend-Krieger«, weil sie aus dem mittleren Osten, Nordafrika und Zentralasien kurzzeitig über die Grenze kamen, um sich an den Kampfhandlungen zu beteiligen. Viele waren kampferprobt, stammten aus Libyen, Tunesien, Saudi-Arabien, Ägypten, dem Irak und dem Libanon. Ihre Expertise wurde von den Regimegegnern hoch eingeschätzt. Einige reisten von weiter her an, auch aus der Schweiz.
Im Folgenden zitiere ich Einzelfälle aus dem besagten Bericht ans UNHRC, die mir besonders erwähnenswert oder repräsentativ scheinen. Sie stehen für Dutzende und Hunderte ähnlicher Vorkommnisse. Manchmal sagten Augenzeugen sogar aus, wenn dies ihren Eigeninteressen zuwiderlief. Wie jene FSA-Soldaten, die uns Details des Massakers anvertrauten, an dem sie im Juli in Aleppo beteiligt waren. Die FSA hatte fünf Mitglieder der al-Barri-Familie verhört und ein Scharia-Gericht einberufen. Dieses Standgericht verurteilte alle fünf zum Tod. Die Aufnahmen ihrer Exekution wurden ins Internet gestellt. Ebenfalls in Aleppo wurden alawitische Offiziere von einem Tribunal abgeurteilt, das sich aus lokalen Geistlichen zusammensetzte. Abzuklären galt es, wer der Angeklagten »Blut an den Händen« habe. Als zwei der Offiziere eine Vergewaltigung zugaben, wurden sie auf der Stelle hingerichtet. Die anderen kamen mit dem Leben davon. Videos auf Facebook oder anderen Social-Media-Kanälen zeigten diese Art von Lynchjustiz anhand verschiedener grausiger Beispiele: In Aleppo wurde einem Menschen, der sich zum Regime bekannte, der Hals durchgeschnitten. Weitere regimetreue Personen wurden kurzerhand vom Dach eines Postgebäudes gestoßen.
Wir bekamen vergleichsweise mehr Berichte solcher Tötungen durch Aufständische auf den Tisch. Etwa von der Stürmung einer Fabrik, in der vor allem Christen beschäftigt waren. »Wir wissen, wer ihr seid und aus welcher Region ihr stammt«, drohten die Bewaffneten. »Verlasst diese Fabrik und dieses Gebiet! Sonst seid ihr eures Lebens nicht mehr sicher!« Wohl um der Forderung Nachdruck zu verleihen, wurde der Direktor daraufhin beiläufig erschossen.
Fünf Regierungssoldaten, die von ihren Posten in einem Internierungslager desertiert waren, klärten uns auf, wie Informationen aus Verdächtigten herausgepresst wurden. Aus den erzwungenen Geständnissen heraus entstanden weitere Listen mit weiteren Verdächtigen. Wir wussten von 22 Personen, die ihren Schnellrichtern Schmiergeld für ihre Entlassung gezahlt hatten. Einer der Deserteure, der zuletzt im Geheimdienst in Hama stationiert war, nannte Entführungen mit Erpressung eine »systematische Praxis in Syrien«. In Latakia wurde einem Freiheitskämpfer ultimativ mitgeteilt: »Ergibst du dich nicht, behalten wir deinen Bruder in Haft!«
Bald erreichten uns glaubwürdige Berichte, dass auch die Opposition ihre Gefangenen misshandelte. Der Schabiha (abgeleitet vom arabischen Wort für »Gespenst«) waren Aufständische in die Falle gegangen. Die Miliz, die von Assads Cousins Fawaz und Mundhir al-Assad befehligt wurde, folterte ihre Gefangenen mit elektrischen Drähten und Knüppeln. In einem Fall wurde ein Mann mit 54 anderen in einem Haus in Aleppo gefangen gehalten. Acht Mitgefangene sah er an ihren Verletzungen einen langsamen Tod sterben. Während der Verhöre waren ihnen die Knochen gebrochen worden.
Wenn es der Opposition gelang, eines Schabiha-Milizionärs habhaft zu werden, gingen sie nicht zimperlich mit ihm um. Ein FSA-Kommandant in Damaskus gab vor unseren Ermittlern zu, einen Inhaftierten geschlagen zu haben, um ihn zur »Beichte« zu zwingen. Anschließend bekam der »Geständige« eine Kugel in den Kopf. Den Schabihas ließ man extrem harte Torturen angedeihen. Denn vor ihnen fürchte man sich ganz besonders, »vor allem die Frauen und Mädchen«, so versuchte ein Bewohner von Homs uns zu erklären, weshalb die Milizionäre keine Gnade erwarten durften. Zu erkennen seien diese Männer an ihren rasierten Köpfen und langen Bärten, zusätzlich zu ihren Schnauzbärten (sunnitische Muslime tragen keine Schnauzbärte).
Als Verhörmethode