Nach unseren ersten vielversprechenden Arbeitstagen im »Wilson« reisten die Kommissäre ab. Paulo ging heim nach Sao Paulo, Karen flog nach Chicago und Vitits Heimadresse war Bangkok. Ich hatte den kürzesten Heimweg. Etwas hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz verstanden, ein Unterschied, der unsere künftige Zusammenarbeit belasten würde: Professoren für Menschenrechte stellen in einem Krieg die Frage: Wer ist getroffen worden? Eine Strafanklägerin fragt: Wer hat geschossen?
Mord und Totschlag werden Alltag
Als ich Kofi Annan in Genf begegnete, war der starke Mann der UNO ausgebrannt. Er hatte seine Syrien-Mission zur hoffnungslosen Sache erklärt und war als Gesandter für Syrien zurückgetreten. Annan war nicht mehr der Mann, den ich kennengelernt hatte und der ein »Nein« nicht gelten ließ. Ich erinnerte mich, wie er im Sommer 1999 um ein Treffen ersuchte, ich war Bundesanwältin, und in den Niederlanden sollte der Posten der Chefanklägerin besetzt werden. Ich glaubte nicht an eine reelle Chance, aber da man eine Einladung des Generalsekretärs der Vereinten Nationen nicht ohne Weiteres ausschlagen kann, reiste ich nach New York. Die Hauptadresse der UNO liegt am Ostufer Manhattans. Wer das erste Mal zu diesem unpersönlich wirkenden Monolithen aufsieht, vor dem die Flaggen der Mitgliedsstaaten wehen, mag etwas eingeschüchtert sein. Nicht, wenn man im Maggiatal aufgewachsen ist. Unsere Berge überragen mühelos jeden Wolkenkratzer. Immerhin, dachte ich anerkennend, selbst wenn er auf einem ehemaligen Schlachthofgelände erbaut ist, dieser Bau steht für die Sicherung des Weltfriedens, die Einhaltung des Völkerrechts, den Schutz der Menschenrechte.
Im Sekretariatshochhaus ließ Kofi Annan seine diplomatische Kunst auf mich wirken. Er wollte mich als »Madame Prosecutor« des Internationalen Strafgerichts haben. Unser Staatssekretariat hatte meinen Namen ins Spiel gebracht, wohl als Wild Card, denn die Schweiz sträubte sich ja seit Ewigkeiten gegen den Beitritt zu den Vereinten Nationen, um die Neutralität zu wahren und noch aus anderen Gründen. Ruth Dreifuss hatte das symbolische Potenzial erfasst, eine Schweizerin auf diesen Posten zu setzen: Die hohe internationale Ausstrahlung war praktisch garantiert. Ich vermutete, auch Kofi hatte Hintergedanken, allerdings andere: Die NATO hatte soeben Serbien bombardiert. Da stellte ich wohl die gutschweizerische Kompromisslösung dar. Ich konnte nachempfinden, wie eine Braut sich bei einer Zwangsheirat fühlt. Wie man weiß, hat Kofi Annan seinen Willen bekommen – und ich das Amt der Chefanklägerin. Ich vergaß nie, wie er mich anstrahlte: »Wenn es nicht klappt, geben Sie einfach mir die Schuld.«
Jetzt hatte seine eigene schwierige Mission »nicht geklappt«, und Annan strahlte nicht mehr. Er habe »nicht alle Unterstützung bekommen, die der Fall verdient«, gab er als Begründung zum Rücktritt als Gesandter für Syrien an. Gleichzeitig sparte er nicht mit Kritik an der Uneinigkeit des Sicherheitsrats. »Es gibt Unstimmigkeiten innerhalb der internationalen Gemeinschaft.« Damit sprach er auch die Rolle der USA und der Golf-Anrainerstaaten an, die den politischen Verhandlungsspielraum ausgeschöpft sahen und die militärische Lösung befürworteten. Sicher war: Mit Kofi Annans Rücktritt schwanden die Aussichten auf eine diplomatische Lösung in diesem Gemetzel. Die Veto-Stimmen von Russland und China hatten mittlerweile drei Syrien-Resolutionen verhindert. Die fünf Vetomächte blockierten gegenseitig die Möglichkeit von Sanktionen gegen Assad.
Dass der Weg über den Sicherheitsrat in eine Sackgasse führen konnte, hatte Annan mir schon vor Jahren auseinandergesetzt. Es war in New York, der Sicherheitsrat hatte mir als Chefanklägerin gerade einen weiteren Stein in den Weg gelegt, und ich stürmte frustriert in Annans Büro im 38. Stock. Man muss dazu wissen, der Weg zum Generalsekretär führt über mehrere Vorzimmer, in denen man von Assistenten ausgebremst wird. Als ich hereinplatzte, verlieh mir mein Ärger noch immer genügend Schwung. »Herr Generalsekretär!«, begann ich, und dann machte ich mir in einer minutenlangen Tirade Luft. Annan ließ mich ausreden, unterbrach mich mit keinem Wort. Dann blickte er mich einen Moment lang an. »Carla, der Sicherheitsrat ist eine politische Institution, die politische Entscheidungen fällt«, klärte er mich auf, »nicht juristische«, und der Ton seiner Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass er selbst seine Mühe damit hatte.
Ihn nun in Genf so resigniert zu sehen, hätte meine Alarmglocken anschlagen sollen. Aber gerade war mein kriminologischer Jagdinstinkt geweckt. Wir sandten die 12 Ermittler aus, sobald wir von möglichen Verbrechen hörten, meist in Teams zu dreien oder vieren. In Libanon, Jordanien, Irak und den anderen Nachbarländern verblieben sie in der Regel zwei bis drei Wochen, bis sie alles aufgenommen hatten, was zur Aufklärung beitragen könnte. Ich brannte darauf, die Täter im »heißen Stuhl« vor mir zu haben, hatte mich doch die Arbeit als Bundesanwältin gelehrt, dass man dem Gegenüber ins Auge blicken muss. Die ersten Minuten eines Verhörs sind die wichtigsten. Die Befragungstechnik hatte mir als junge Staatsanwältin einer der Besten auf diesem Gebiet beigebracht, Giovanni Falcone, der sizilianische Untersuchungsrichter, der wusste, wie man einen Mafioso anpacken muss. Ich wollte mich jedoch nicht in die Arbeit der Ermittler einmischen. Nichtsdestotrotz, ein schriftlicher Bericht lässt sich nicht mit einer persönlichen Einvernahme vergleichen. Aber genau das erhielten wir: schriftliche Berichte. Natürlich erforderte es ausgezeichnete Kenntnisse der Umstände, der Sprache und der lokalen Gebräuche, um die Puzzleteile dieser Auseinandersetzungen richtig zusammenzusetzen. Doch manchmal, so musste ich feststellen, fehlten in den Abklärungen wichtige Teilchen für das Gesamtbild.
Immerhin konnte ich den Ermittlern meine Fragen mit auf den Weg geben. Ich wünschte in bestimmten Fällen spezifische Auskünfte. Die Antwort, die ich nach der Rückkehr jeweils erhielt, war ernüchternd: »Wir sind für umfangreichere Ermittlungen einfach zu wenige Leute, Frau Del Ponte.« Das stimmte allerdings. Die Mittel der Syrien-Kommission waren nicht zu vergleichen mit den Mitteln, die ich am ICTY zur Verfügung gehabt hatte. Damals beschäftigte die Anklagebehörde insgesamt 600 Personen, Rechtsanwälte, Ermittlungsbeamte, Psychologen und Dolmetscher. Hier würden wir, wie man so schön sagt, kleinere Brötchen backen müssen. Aber auch kleine Ermittlungserfolge sind wertvoll. Rein hierarchisch gesehen waren die Ermittler der Kommission unterstellt. Doch Paulo Sérgio Pinheiro hatte sich entschieden, diese Verantwortung auf seinen »Coordinator« zu übertragen, der die Ermittler anleitete. Paulo selbst wollte auf den humanitären Teil des Mandats fokussieren. Ich blieb fokussiert auf das Verbrechen. Auch die anderen zwei Kommissionsmitglieder wiederholten immerzu das Mantra der Menschenrechte.
Ich saß also auf dem Beifahrersitz. Aber ich saß im Wagen. Vielleicht könnte ich trotzdem das Ziel ansteuern, den Sicherheitsrat dazu zu bringen, Schritte zur Strafverfolgung zu unternehmen. In dieser Absicht stimmten Paulo und ich überein. Was nicht heißen soll, dass er Anstalten unternahm, sich stärker dieser Seite des Mandats zu widmen. Eine Anklageschrift vorzubereiten, quasi die Blaupause für einen späteren Strafgerichtshof in Syrien, ging ihm zu weit. »Das geht doch nicht! Wir sind kein Staatsanwaltsbüro, Carla, finde dich damit ab.« Über diesen strittigen Punkt debattierten wir oft und energisch. Damals war das Einvernehmen noch gut.
So beschränkten wir uns darauf, die sogenannte »Crime Base« zu ermitteln: Zeitpunkt und Ort, Vorgang und Art des Verbrechens. Nicht aber den Verbrecher selbst. Wenn es zu einem