Die »Swiss Mission«, wie sie gemeinhin genannt wird (Mission of Switzerland to the UN) in der Person von Alexandre Fasel hatte unser erstes Zusammenkommen arrangiert. Wir stießen mit einem Becher Kaffee in der Cafeteria des »Wilson« auf gute Zusammenarbeit an. Die Amtssprache unserer Gruppe war Englisch. Fasel äußerte mir gegenüber seine Bedenken: »Ich weiß nicht, ob Paulo Sérgio Pinheiro dich als Mitglied akzeptieren wird.« Da ich einen guten ersten Eindruck gewonnen hatte, erstaunte mich Fasels Einschätzung. »Habe ich mich nicht gut benommen?« Fasel schüttelte den Kopf. »Du bist als ehemalige Chefanklägerin überqualifiziert.« Bisher hatte die Kommission auf dem diplomatischen Parkett wenig erreicht. In ihrem ersten Bericht hatte sie sich »gravely concerned« gezeigt – sehr besorgt über die Vorgänge in Syrien. Ich hatte mich von Pinheiros angenehmem Wesen überzeugen lassen, dass wir die Sache gemeinsam anpacken würden, und er schien auch von mir eingenommen. Fasel war erstaunt, als Pinheiro am UNHRC meine Ernennung befürwortete. Meines Wissens hatte das EDA ohnehin keinen Back-up-Kandidaten in der Hinterhand.
Erst als sich alle verabschiedeten, fiel mir auf, dass die Kommissäre in verschiedenen Hotels logierten – jeder hatte seine Unterkunft nach eigenem Gutdünken gewählt. Ich sollte erwähnen, dass wir pro bono tätig waren. Ein teures Genfer Hotel hätte das Spesenkonto gesprengt, das man uns gewährte. Dennoch war ich überrascht, dass wir nicht unter einem Dach lebten. In ihrer früheren Zusammensetzung hatte die Kommission sich bereits mit Mitgliedern aller regionalen Gruppen getroffen, einschließlich der Liga der arabischen Staaten und der Organisation der Islamischen Zusammenarbeit. Mit Vertretern von NGOs, Menschenrechtsvertretern und weiteren Experten hatte man sich ebenfalls ausgetauscht. Alle Personen und Organisationen, die relevante Informationen liefern konnten, waren aufgerufen, sich bei der Kommission zu melden. Zweimal jährlich sollte sie dem UNHRC Bericht erstatten. Der Sicherheitsrat nahm anschließend vom Bericht Kenntnis, jedoch nicht formell. Schon in seiner ersten Zusammenfassung der Ereignisse sprach der Rapport von einer »substanziellen Beweislast« und »schwerwiegenden Verletzungen« der Menschenrechte durch das syrische Militär und die Sicherheitskräfte des Regimes.
Die Missachtung der Menschenrechte war in Syrien freilich kein neuer Zustand. Schon 1982 war es zu beträchtlichen Verstößen gekommen, als die Muslimbrüder in der Stadt Hama den Aufstand probten. Die syrischen Streitkräfte bombardierten damals die Stadt, geschätzte 25 000 Menschen verloren ihr Leben. Dieser Massenmord war ungesühnt geblieben und warf seine Schatten voraus auf die Gräueltaten, die noch kommen sollten. An der Macht war seit dem Militärputsch 1971 Hafiz al-Assad. Mit ihm kamen ganze Dekaden der Unterdrückung. Seit einem halben Jahrhundert wurde Syrien von der Arabisch Sozialistischen Baath-Partei als Einparteiensystem regiert. Das syrische Herrschaftssystem ist nichts anderes als eine Militärdiktatur, geführt von der Minderheit der Alawiten. Es wurde darum allgemein als Lichtblick gewertet, als Hafiz’ Sohn Baschar im Jahr 2000 an die Macht kam (selbst wenn Syrien damit zur präsidialen Monarchie wurde). Tatsächlich rief der junge Präsident einen Reformprozess aus. Nicht ungeschickt, wie er sich mit der Zeit der alten Staatselite entledigte und in seinen ersten sechs Amtsjahren 14 Ministerien neu besetzte. In seiner Vereidigungsrede sprach Baschar gar von Bürgerrechten. Offenbar, so durfte der Westen hoffen, wurden da zaghafte Schritte zur Demokratisierung gemacht.
Die geopolitisch brisante Lage des Staates erlaubte es dem jungen Assad nicht, seine Ziele in Ruhe zu verfolgen: Kaum im Amt, entbrannte die »zweite Intifada«, der gewaltsame Konflikt zwischen Palästina und Israel, dann kam 9/11 und 2003 der Irakkrieg. Auf die Ermordung des libanesischen Premiers Rafik Hariri 2005 zogen sich die syrischen Truppen aus dem Libanon zurück, woraufhin 2006 der Libanonkrieg und 2009 der Gaza-Krieg ausgetragen wurden. Nachdem Assad sich die Macht gesichert hatte, wurde der politische Öffnungsprozess beendet. Die Forderungen seiner politischen Gegner gingen ihm zu weit. Er begann damit, seine Kritiker ins Gefängnis zu stecken. Der Appell der Opposition, mit der »Damaszener Erklärung« den jungen Präsidenten an seine Versprechen zu erinnern, lief ins Leere.
Auf mich machte der 1965 geborene Baschar anfangs noch den Eindruck eines Juniorchefs, der gegen seinen Willen das Familienunternehmen übernehmen muss. Denn eigentlich war sein älterer Bruder Basil als Präsidenten-Nachfolger vorgesehen. Baschar hatte sich bereits auf ein ruhiges Leben außerhalb des Personenkults eingestellt, der um seinen Vater betrieben wurde. Er studierte Medizin in Damaskus, ließ sich in einem Londoner Spital zum Augenarzt ausbilden. Doch als Basil in einem Autowrack umkam, musste der jüngere Bruder nach Syrien zurückkehren. Seine militärische Ausbildung war eher ein Crashkurs. Auch zeigt sich Baschar al-Assad nicht in den Fantasieuniformen, die Militärdiktatoren gern zur Schau tragen, behängt mit Orden, von denen niemand genau weiß, wofür ihr Träger sie erhalten hat.
Baschar trägt mit Vorliebe blaue, gut geschnittene Anzüge, die Krawatte ist sorgfältig ausgesucht. Die kleinen schwarzen Augen liegen tief in ihren Höhlen, sie verleihen ihm ein lebhaftes Aussehen. Allerdings ließ ich mich nicht von Äußerlichkeiten täuschen. Hatten nicht auch die Mafiosi, mit denen ich mich als Staatsanwältin beschäftigte, ein charmantes Auftreten? Gaben sie sich nicht auch als kultivierte Männer von Welt? Und hatten nicht auch sie ihre Taten stets damit erklärt, im besten Interesse ihrer »Familie« zu handeln? So wie die »Paten« nahm auch Assad für sich in Anspruch, als »Familienoberhaupt« nur gute Absichten zum Wohl der syrischen Vielvölker-Familie zu verfolgen. Doch tatsächlich hatte der Augenarzt, Dr. Jekyll, sich vor unser aller Augen in einen Mr. Hyde verwandelt.
Also gingen wir an die Arbeit. Jeder Ermittler weiß, wie wichtig es ist, einen Tatort zu sichern. Beweise zu sammeln, bevor die Spuren verwischt sind. Bald jedoch ging mir auf: Ich war eine Kommissarin, die 3000 Kilometer vom Ort des Verbrechens entfernt blieb. Gleich im ersten Bericht hatte die Kommission ihr tiefes Bedauern zum Ausdruck gebracht, dass den Mandatsträgern der Zutritt ins Land verwehrt war – es sollte nicht das letzte Mal sein. Assads Sprachrohr in Genf, Faysal Khabbaz Hamoui, war bekannt dafür, auch mal aus dem Ratssaal zu stürmen, wenn sein Präsident kritisiert wurde. Kurz vorher hatte das EDA die Botschafterin Syriens, Lamia Chakkour, zur persona non grata erklärt. Damit protestierte die Schweiz gegen die systematische Verletzung der Sicherheitsratsresolutionen. Die Situation war also, gelinde gesagt, etwas angespannt. Hamoui beantwortete das Anschreiben der Kommission kurz und bündig: Man habe bereits eine unabhängige, eigene Kommission eingesetzt, um alle Ereignisse seit März 2011 zu untersuchen. Eine Möglichkeit der Kooperation der beiden Gremien zu einem späteren Zeitpunkt wurde nicht kategorisch ausgeschlossen. Turnusmäßig wiederholten wir die Aufforderung höflich – schließlich sprachen hier Diplomaten zu Diplomaten –, doch die Unterhaltung blieb einseitig. Unser Mitstreiter Vitit Muntarbhorn hatte Erfahrung darin, als UN-Beauftragter für ein bestimmtes Gebiet dasselbe nie betreten zu haben: Während seiner sechs Jahre in UN-Diensten, in denen er über die Lage der Menschenrechte in Nord-Korea berichten sollte, hatte Nord-Korea ihn nicht einmal ins Land gelassen.
Ein Katalog mit 26 Fragen zu spezifischen Vorfällen, abgefasst nach allen Regeln diplomatischer Sprachkunst, aber nichtsdestotrotz unbequeme Themen berührend, blieb von Syrien weitgehend unbeantwortet. Stattdessen nutzte der syrische Botschafter in seiner Replik die Chance, Amerika und anderen Staaten vorzuwerfen, die Region dominieren zu wollen. Der Druck der EU durch ökonomische Sanktionen, so klagte er, treffe die Menschen in Syrien. Jeder Todesfall, von wem und wo auch immer herbeigeführt, werde registriert, ließ Assads Regierung in der Schweiz ausrichten.
Da wir davon ausgehen konnten, dass die »Registrierung« dieser Todesfälle ins Reich der Fantasie gehörten, würden wir unsere eigenen Leute auf die Aufklärung dieser Morde ansetzen. Ein Dutzend Ermittler