199
Eine bloß formell fehlerhafte Buchführung liegt vor, wenn gegen Ordnungsvorschriften der AO und aus anderen Gesetzen verstoßen worden ist, die steuerliche Bedeutung haben (§ 140 AO). Es sind dies überwiegend die Verstöße gegen §§ 143 ff. AO. Eine formell fehlerhafte Buchführung berechtigt das Finanzamt grundsätzlich noch nicht zu Zuschätzungen, wenn nicht auch materielle Fehler vorliegen. Allerdings zeigt sich in neuerer Zeit bei größeren formellen Fehlern die Neigung der Finanzverwaltung, Zuschätzungen vorzunehmen ohne die Feststellung von materiellen Fehlern. Die Diskussion dürfte sich entwickeln, was unter größeren formellen Fehlern zu verstehen sein dürfte.
200
Materielle Fehler der Buchführung liegen vor bei Unvollständigkeit der Aufzeichnungen, Fehlbuchungen, Kassenfehlern o.Ä., die insgesamt Zweifel an der Richtigkeit des Zahlenwerkes zu wecken vermögen. Dadurch wird die Vermutung des § 158 AO erschüttert, wonach die ordnungsgemäße Buchführung der Besteuerung zugrunde zu legen ist, so dass das Finanzamt die Besteuerungsgrundlagen schätzen darf (und muss). Die wichtigsten Indizien für materielle Fehler ergeben sich aus Nachkalkulationen, Geldverkehrs- und Vermögenszuwachsrechnung oder ungeklärten Mittelzuflüssen.[83]
bb) Schätzungsmethoden
201
Die Finanzverwaltung hat eine Vielzahl von Schätzungsmethoden entwickelt, die angepasst an den jeweiligen Einzelfall eingesetzt werden können. Die Überzeugungskraft der Schätzung steigt, wenn mehrere parallel angewandte Methoden zu ähnlichen Ergebnissen kommen, weswegen darauf nicht verzichtet werden sollte.
202
Die Methoden im Überblick:
a) | Innerer und äußerer Betriebsvergleich Vergleich der wichtigsten Kennzahlen des Betriebes (Rohgewinnaufschlagsatz, Halbreingewinn, Reingewinn) innerhalb desselben Betriebes über mehrere Jahre oder mit Vergleichswerten der Finanzverwaltung durch sog. Richtsatzsammlungen.[84] Verdächtig sind große Abweichungen oder Schwankungen in den Kennzahlen oder größere Abweichungen von den Richtsatzwerten. |
203
b) | Ausbeute – Kalkulation rechnet z.B. vom Wareneinkauf (WES) und dem Aufschlagsatz (RAS) hoch zum rechnerischen wirtschaftlichen Umsatz (WUS) und vergleicht den Wert mit dem tatsächlich deklarierten Umsatz. Die Methode funktioniert nur gut bei einfach strukturierten Betrieben oder wird ansonsten sehr arbeitsintensiv. |
204
c) | Weitere Kalkulationen über andere Gegenstände des betrieblichen Bedarfs wie z.B. den Treibstoffverbrauch bei Taxen in Bezug zur Laufleistung (die wiederum ein Indikator für den Umsatz ist), bei Färbesets für Friseurbetriebe, das Verhältnis von Speisen und Getränken in einer Gaststätte (70:30)[85] oder auch mal den Kondomeinkauf in Bordellen. |
205
d) | Geldverkehrsrechnung (GVR) geht vom Grundgedanken aus, dass niemand mehr Geld ausgeben kann als er eingenommen hat (ohne Sparkonten). Es werden daher die Zu- und Abflüsse verglichen, um eine Aussage darüber treffen zu können, ob der Lebensstandard von dem Einkommen bestritten werden konnte – oder ob es zusätzliche (nicht erklärte bzw. bisher nicht bekannte) Einnahmen gegeben haben muss. |
206
e) | Vermögenszuwachsrechnung (VZR) ist sehr ähnlich zur GVR und hinterfragt, ob die Vermögenszuwächse mit den vorhandenen Einnahmen und Vermögen finanziert werden konnten. GVR und VZR setzen möglichst lückenlose Informationen über Einnahmen, Ausgaben und Konten voraus. |
207
f) | Beim Zeitreihenvergleich geht man vom zeitlichen Zusammenhang zwischen Einkauf und Verkauf aus. Steigt der Umsatz, müsste auch der Einkauf entsprechend gestiegen sein (zumindest bei kurzlebigen Produkten). Das Verhältnis von Umsatz und Einkauf wird wöchentlich berechnet und der vom Betrieb tatsächlich erwirtschaftete höchste wöchentliche Rohgewinnaufschlagsatz wird dann für alle anderen Wochen ebenfalls angesetzt. Das kann zu erheblichen Umsatzzuschätzungen führen. Das Problem ist die wirtschaftlich korrekte Verteilung des Wareneinsatzes, da ein zu niedriger Ansatz des WES in einer Woche zwingend zu einem höheren RAS dieser Woche führen muss, der bei Zuschätzungen wie ein Kniehebeleffekt wirkt. Daher hat der BFH aktuell Bedenken gegen diese Schätzungsmethode erhoben,[86] deren Anwendung nicht einfach ist und meist großer Sorgfalt bedarf. Im Normalfall wird sie dem Finanzamt nur ein Indiz dafür sein, dass sich die Mühe weiterer Schätzungen nach anderen Methoden lohnen könnte. |
208
g) | Chi2–Test und Benfords Law sind statistische Auswertemethoden, die eine Aussage darüber zulassen, ob eine Reihe von wirtschaftlich entstandenen Zahlen (wie z.B. die Tageseinnahmen von zwei Jahren) zufällig verteilt sind oder eine Störung der statistischen Normalverteilung vorliegt. Falls das so ist, muss nach Gründen dafür gesucht werden. Lassen sich keine nachvollziehbaren anderen Gründe finden, besteht ein Indiz dafür, dass die Zahlenfolgen manuell beeinflusst worden sind wie es beim freien Erfinden von Tageseinnahmen (unter Weglassen der echten Einnahmen) vorkommt. |
209
h) | Statistisches Wahrscheinlichkeitsnetz sowie sog. Summarische Risiko Prüfung (SRP) benutzen ebenfalls die Methoden der Statistik und versuchen die Abweichung der erklärten Tageseinnahmen (oder jeder anderen wirtschaftlich entstandenen Zahlenreihe) von der nach der statistischen Normalverteilung zu erwartenden Verteilung zu bestimmen. Die Differenz könnte im obigen Beispiel bei Tageseinnahmen der wahrscheinlich erzielte Schwarz – Umsatz sein. Die Wahrscheinlichkeit liegt bei den von der Finanzverwaltung verwendeten Programmen höher als 99 %. Während Chi2–Test und Benfords Law nur eine Aussage über Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit einer Zahlenreihe machen, kann die SRP eine Aussage darüber machen, um wie viel die Wahrscheinlichkeit gestört ist und kommt damit zu konkreten Schätzungszahlen. Eine gerichtliche Überprüfung dieser Methode steht aber derzeit noch aus. |