Zum Glück für ihn gab es nicht nur die Flöte. Eins-Affe und der Priester-Weise führten ihn behutsam in die Rolle eines Gottesabbildes ein. Jadefisch übte die Tänze des Tezcatlipoca, er lernte lange Tabakspfeifen zu rauchen, gelbe Blumensträuße in der Luft zu schwenken, und währenddessen malte er sich sein künftiges Leben als Gottesabbild aus. Die aztekische Metropole erwartete ihn! Auf ihrer Insel im Schilf, in den Binsen, im mittleren der flachen Seen des Hochtals von Mexiko mit seinen Wäldern, Feldern und Gärten, erhob sie sich, bewundert und gefürchtet, so weit der Wind die Kunde von ihr trug, und Jadefisch würde sie sehen! Würde nach Lust und Laune die Straßen entlang der Kanäle durchstreifen. Menschen würde er begegnen, die weder Priester noch Wächter waren, die ihrem Tagewerk nachgingen. Mädchen, die sich in den Hüften wiegten, wenn sie, mit bunten Bändern im Haar und den noch leeren Körben auf dem Rücken, früh zum Marktplatz zogen, lachend, taufrisch.
„Du präsentierst dich wie ein Kolibri, der eine Blüte voll Nektar umschwirrt!“, rügte der Priester-Weise. Jadefisch schluckte. Er hatte der keusche Jüngling zu sein. Erst am Ende seines Jahres würde er Liebesfreuden genießen.
Wenigstens musste er nicht auch noch fasten wie ein Priester, tröstete sich Jadefisch. Immerhin erhielt er bisweilen scharf gewürzten, roten Kakao mit Honig und Vanille und durfte den süßen Saft, der sich im Herzen der Agave sammelt, trinken.
Auch den vergorenen, den säuerlichen, der verboten war? Wäre nicht der Flötenunterricht gewesen, Jadefisch wäre noch gänzlich in das Luftreich der Träume entschwebt. Aber die Blumenflöte schien, so klein sie war, so himmelhoch sie sang, die alte Erde anzuziehen. Dann taumelten die Töne, suchten, wie an den Abgrund gedrängt, ihr Gleichgewicht zu erhalten. Sie stürzten, sie zerschellten. Immer an derselben Stelle. Eins-Affe nannte sie den magischen Ort der Verwandlung, den dunkel-hellen Ton des Übergangs von Nacht zu Tag, von Tod zu Leben. Wenn Jadefisch ihn spielte und Eins-Affe selbstvergessen die Augen schloss, erfasste ihn Jubel: Er gefiel Tezcatlipoca! Der Gott verlieh ihm mittels der Musik Zaubermacht über die Menschen. Doch auf dem Gipfel des Triumphes krampfte sich sein Herz zusammen, und er verspielte sich. Der von Eins-Affe ersehnte Ton, er war der Tod, nichts als der Tod, den man ihm auferlegte. Der Ton fiel und fiel in den Abgrund hinein, ging ganz und gar zuschanden. Unweigerlich öffnete Eins-Affe dann enttäuscht die Augen, stach der Priester-Weise Jadefisch mit dem Agavendorn.
Jadefisch musste sich mehr bemühen. Es war undenkbar, dass er versagte. Dass er sich selbst, sein Elternhaus und seine Heimatstadt verächtlich machte.
Er hatte nicht mehr sehr viel Zeit. Schon war man im Monat des Großen Wachens. Dann brachen die zwanzig Tage von Toxcatl, dem Dürre-Monat, an, in dem man allerorten das Fest des Tezcatlipoca beging; bis dahin musste Jadefisch das Blumenlied beherrschen.
Draußen ging das amtierende Abbild des Tezcatlipoca mit seiner Blumenflöte einher. Manchmal hörte Jadefisch die durch vieles Üben vertraute Melodie. Er lauschte dann auf jedes Detail: die Dauer eines Tons, Vibrato, Tempo, Stimmung.
Einmal betrat jener andere den Raum. Während Eins-Affe und der Priester-Weise sich vor ihm verneigten, beobachtete Jadefisch ihn aus den Augenwinkeln. Der andere, der das bemerkte, setzte die Flöte ab. Jadefisch senkte die Lider und wiederholte den Gruß des Erdessens wie vor dem Großen Sprecher. Der andere kam näher. „Du also bist der Auserwählte, der mir nachfolgen wird. Nenne mir deinen Namen!”
„Jadefisch, Ehrwürdiger”, antwortete dieser. „Darf ich den deinen wissen?”
Das schwarz bemalte Antlitz vor ihm wurde undurchdringlich und hoheitsvoll. „Als Mensch trug ich den Namen eines Kriegers aus Tlaxcallan. Jetzt bin ich das Abbild des Tezcatlipoca! Was das bedeutet, wirst du bald erfahren.“ Er begann, um Jadefisch herumzutanzen. Aus einer unbegreiflichen göttlichen Laune heraus steckte er ihm das Ende seiner Pfeife in den Mund. „Du musst tief einatmen”, raunte er ihm zu, „das führt dich in ein anderes Land.” Dazu ließ er die goldenen Schellen an den Waden klingeln.
Jadefisch zog kräftig an dem langen Rohr. Kaum hatte er den Rauch verschluckt, als ihm flau und schwindlig wurde. Der andere beugte sich über ihn. „Du wirst dich leicht wie eine Wolke fühlen.” Dann verließ er den Raum so unverhofft, wie er gekommen war. Nur die Musik hing mit dem Tabakrauch noch eine Weile in der Luft.
Eins-Affe riss seinen Schüler aus den Gedanken. „Übe weiter, Jadefisch!”
Dieser sammelte sich. „Bin ich denn würdig, jetzt, nach dem ehrwürdigen Abbild, zu spielen?”
Eins-Affe schien nicht verstehen zu wollen. „Wie solltest du nicht würdig sein? Du bist der Erwählte …” Plötzlich aber strahlte er. „Du wirst spielen wie der Gott persönlich – so wie es immer ist.“
„Glaubst du, ich werde es zustandebringen?“
„Darum musst du Tezcatlipoca bitten. Es ist Sein Blumenlied.“ Er und der Priester-Weise tauschten einen Blick. „Wenn du dein Schicksal annimmst, wird Er dich erhören.“
Jadefisch senkte beschämt den Kopf: Sie hatten seine Feigheit erkannt.
„Furcht ist kein Makel“, tröstete der Priester-Weise. „So wenig wie es ein Verdienst ist, sich das Leben leicht zu machen, indem man seine Bestimmung vergisst.“
„Was meinst du?“
„Den Schicksalston, an dem du scheiterst. Die meisten überspielen ihn.“
„Sie lassen ihn aus?“
„Keineswegs, sie spielen ihn korrekt. Aber sie geben sich nicht hin. Wie mit Schmetterlingsfüßen tippen sie ihn an und sind wieder weg.“
„Das Abbild, das soeben hier war, hat den Ton doch gut getroffen.“
„Mit jener Leichtigkeit, die ihm die schwarze Götterfarbe gibt.“
Eins-Affe nahm den anderen in Schutz: „Er ist ein ausgezeichneter Spieler.“
„Es gibt nichts an ihm auszusetzen“, bestätigte der Priester-Weise. „Auch du kannst so spielen, Jadefisch. Du musst dich nur erinnern.“
„Erinnern? Woran?“
„An deine Heimat, an Cholollan. Die Stadt der Grünfederschlange steht inmitten wogender Felder wie ein blühender Baum. Vögel zwitschern in den Zweigen, die Luft ist von ihren Stimmen erfüllt. Im Hause deines Vaters ist überall Musik.“
Der Priester-Weise hatte recht. Die Musik war immer dagewesen. Sie wob in den Räumen, sie drang aus jeder Ritze im Stein, sie lebte in allen Dingen. Jadefisch fand sich auf der Stelle in seine Kindheit zurückversetzt. Bilder schoben sich vor seine Augen wie in einem Traum; die Zeit schien darin aufgehoben. Was war, wird sein, es ist, doch seltsam losgelöst vom Träumer. Ist er der kleine Knabe? Vier, fünf Jahre ist er alt, er spielt mit anderen Kindern im Hof. Am Brunnen singt das Amselhähnchen mit den gelben Flügelbinden. Die alte Magnolie duftet, und der Gärtner pflückt die großen weiß-rosa Blüten, fröhlich singend: ‚Heut abend gibt der König ein Fest! Er hat die Krieger eingeladen.‘ Der rote Sonnenball sinkt hinter das Dach, das Licht wird honigfarben. Es folgen die kurze Dämmerung, der frische Wind, die kühle Nacht. Der Ruf der großen Trommel! Der Knabe huscht in den Festsaal, versteckt sich hinter dem Räuchergefäß. Seine Haut berührt Ton, der schwingt und summt, durch alle Poren dringt. Es surrt und pfeift! Die Luft vibriert! Unter ihm der Boden ist ein Tier; er hat ein Herz, das rhythmisch schlägt, und auch der Knabe hat ein Herz, etwas in der Brust, das sich bewegt, ihm in den Hals springt. Herz, mein Herz, denkt er verwundert. Es macht Musik, es antwortet dem Boden und der Luft und dem Räuchergefäß, an dem er vorbeilugt. Nun sieht er es: Inmitten des Saales lodern zwei Feuer. Sie leuchten einen Baldachin aus Magnolienblüten an und den darunter sitzenden Vater. Neben ihm hocken zwei Onkel. Der ältere schlägt eine Trommel, sie kennt der Knabe schon. Sie