In der Collage findet eine Juxtaposition disparater Realitäten statt, die aus ihren alten Zusammenhängen herausgerissen wurden und nun neue Beziehungen zueinander knüpfen. Die Affinität der Surrealisten zur Collage ist unter anderem auf Lautréamont und Pierre Reverdy zurückzuführen, die die Grundlagen der surrealistischen Bildtheorie geliefert haben. In Les chants de Maldoror (1869) schrieb Lautréamont, das Aufeinandertreffen zwei entfernter Realitäten sei „beau […] comme la rencontre fortuite sur une table de dissection d’une machine à coudre et d’un parapluie!“8 Die Nähmaschine und der Regenschirm sind häufig auftretende Motive in den surrealistischen Stücken, wie z.B. in S’il vous plaît, Victor ou les enfants au pouvoir oder Le désir attrapé par la queue (1941 verfasst). Analog zu Lautréamonts Bildkonzeption schrieb Reverdy einige Jahrzehnte später in der Literaturzeitschrift Nord-Sud (1918):
L’Image est une création pure de l’esprit. Elle ne peut naître d’une comparaison mais du rapprochement de deux réalités plus ou moins éloignées. Plus les rapports des deux réalités rapprochées seront lointains et justes, plus l’image sera forte – plus elle aura de puissance émotive et de réalité poétique.9
Im Zentrum steht die poetisch reine Emotion, die eben nicht durch die bloße Imitation der Realität erzeugt werde, sondern durch die Annäherung zwei entfernter Realitäten. Der Rezipient empfinde Freude und Überraschung angesichts des auf diese Weise entstandenen Bildes. Ein Jahr zuvor hatte Apollinaire die Überraschung bereits als wichtiges Element des esprit nouveau definiert: „C’est […] par la place importante qu’il fait à la suprise que l’esprit nouveau se distingue de tous les mouvements artistiques et littéraires qui l‘ont précédé.“10 Beim Aufeinandertreffen von zwei disparaten Realitäten entsteht ein neues Bild, dessen „lumière“11 eine transformative Kraft besitzt. Collage und surrealistische Bildtheorie stehen sich also sehr nah, denn hier wie dort treffen zwei an und für sich vertraute, aber voneinander entfernte Realitäten aufeinander und erzeugen in ihrer ungewöhnlichen Kombination überraschende Bilder, die eine desorientierende und transformative Wirkung auf den Rezipienten haben. Die Juxtaposition soll uns, so Breton, jegliches Referenzsystem entziehen und uns „dépayser en notre propre souvenir“12.
Hervorzuheben ist, dass hier zwei Realitäten, „sans sortir d’un champ de notre expérience“, aufeinandertreffen: die Realität ist immer der Ausgangspunkt, denn „[u]n paysage où rien n’entre de terrestre n’est pas à la portée de notre imagination“13. Die Neuheit der surrealistischen Kunst liegt also nicht in der Verwendung eines komplett neuen Materials, sondern in der freien Kombinatorik des bereits Existierenden.
Aufgrund seiner Multidisziplinarität ist das Theater prädestiniert für die Collage. Aragon hat die Collage mit dem Theater verglichen, da in beiden disparate Elemente in einen Rahmen bzw. auf eine Bühne geworfen werden: „le drame est ce conflit des éléments disparates quand ils sont réunis dans un cadre réel où leur propre réalité se dépayse.“14 In den surrealistischen Stücken ist die Collage stark präsent. Als Konstruktionsprinzip unterliegt sie beispielsweise dem im Kollektiv verfassten Stück Comme il fait beau!, für das Péret die Haupthandlung lieferte, während Desnos für die Wortspiele und die Ode an Silexame verantwortlich war. Breton hat schließlich mit Desnos zusammen die poetischen Einheiten assembliert, von ihm stammt auch das Lied der Koralle. Das Stück kulminiert in der Erscheinung Silexames, der mit seinem Gabelkopf, seinem Körper aus Muscheln und den mit Blättern bedeckten Armen selbst einem Wesen aus einer Max-Ernst-Collage gleicht. Häufig werden auch Elemente aus anderen Kunstformen und Lebensbereichen in die surrealistischen Stücke hineinmontiert. So werden beispielsweise Techniken des Kinos auf die surrealistische Bühne übertragen, wie z.B. die Montage (rapide Abfolge von voneinander unabhängigen Szenen in Poison, schnelle räumliche Sprünge in Au pied du mur), stummfilmähnliche Sequenzen (das „drame sans paroles“ Poison, mehrere Passagen in der Stummfilmhommage Le trésor des jésuites, die Ermordung von Lénore in L’armoire à glace un beau soir), Slow-Motion und Freeze Frames (in Victor ou les enfants au pouvoir und Le trésor des jésuites). Die Zeitung als Medium, das Raum und Zeit transzendiert und disparates Material wie in einer Collage präsentiert, fand großen Anreiz unter den Surrealisten: die Freiheit des Poeten „ne peut pas être moins grande que celle d’un journal quotidien qui traite dans une seule feuille des matières les plus diverses, parcourt des pays les plus éloignés“15, schrieb Apollinaire. In einigen surrealistischen Theaterstücken werden Zeitungsnachrichten entweder in den Theatertext collagiert (in Victor ou les enfants au pouvoir liest Charles seiner Frau authentische Artikel aus dem Matin vom 12. September 1909 vor) oder sind Vorlage für Bühnengeschehnisse (in Le trésor des jésuites basiert die Ermordungsszene von M. de Pérédès auf einer wahren Begebenheit). Die surrealistischen Theaterautoren collagierten auch gerne Fragmente aus der Literatur bzw. Fachliteratur in ihre Stücke (in Victor ou les enfants au pouvoir hat Vitrac Auszüge aus dem Larousse, der Ilias und einem Gedicht von Victor de Laprade in den Theatertext übernommen, und in Comme il fait beau! befinden sich Passagen aus Gebrauchsanweisungen für Medikamente). Auch Reklame kommt als Collageelement in den surrealistischen Stücken vor: in Vous m’oublierez verkündet Machine à coudre beispielsweise einen Werbeslogan über Pigeon-Lampen, den man damals in vielen Zeitungen lesen konnte.
Die Collage entspricht der Schnelllebigkeit und Zerstreutheit des modernen Lebens, das sich nicht mehr in seinen Sinnzusammenhängen nachvollziehen lässt. Die Wirklichkeit entzieht sich jedem Ordnungsversuch. Die radikale Juxtaposition von Realitätsfetzen verlangt von den Zuschauern eine Anpassung ihrer Sehgewohnheiten an eine urbane, rapide, multisensorielle Umgebung. Der Autor ist nun nicht mehr Schöpfer eines organischen Ganzen, sondern Dirigent seines Materials, das er so zusammenfügt, dass die Übergänge erkennbar bleiben. Eine Synthese der Einzelteile bleibt aus, sie stehen für sich allein und verweisen nicht auf ein sinnstiftendes Ganzes.
3.4.7 Wirkung auf den Zuschauer
Die Avantgarde hat die Beziehung zwischen Kunstproduzenten und -rezipienten radikal verändert. Am Theater, wo Bühne und Zuschauerraum aufeinandertreffen, wird diese Beziehung so gut wie in keiner anderen Kunstform sichtbar. Die Positionen der Surrealisten gegenüber ihrem Publikum werden im Folgenden skizziert.
In ihrer spät-dadaistischen Phase sind die angehenden Surrealisten auf Krawall gebürstet: Schock, Unverständnis und Empörung prägen die Reaktionen der Zuschauer auf das Bühnengeschehen. Jarrys Auffassung vom Publikum als „masse inerte et incompréhensive et passive“1, die man ab und zu schlagen müsse, um an ihrem Stöhnen zu erfahren, wo sie sich befinde, ist bei den frühen Surrealisten noch stark präsent. Die avantgardistische Kunst soll kein Konsumgut für eine bräsige Bourgeoisie mehr sein, Theater soll nicht rühren, sondern aufrühren, es soll die Zuschauer zur Reaktion zwingen. Dieser provokante Charakter des frühsurrealistischen Theaters manifestiert sich im vierten Akt von S’il vous plaît, in dem ein vermeintlicher Zuschauer seinem Unmut lautstark Luft macht und schließlich empört den Saal verlässt:
Je répète que je ne comprends rien. (Applaudissements.) Il est probable que je ne suis pas le seul. (Debout sur son fauteuil.) Depuis quelque temps, sous prétexte d’originalité et d’indépendance, notre bel art est saboté par une bande d’individus dont le nombre grossit chaque jour et qui ne sont, pour la plupart, que des énergumènes,