Der zuletzt genannte Vorwurf der Unglaubwürdigkeit dichterischer Darstellung ist für Hermogenes der entscheidende: Das Kriterium der Plausibilität (τὸ εἰκός) erlaubt ein Urteil darüber, ob eine dichterische Unternehmung (διασκευή) als akzeptabel gewertet werden kann oder nicht.35
Um einen gewagteren, die Grenzen der Glaubwürdigkeit überschreitenden Gedanken dennoch zu formulieren, aber zugleich dem Vorwurf des κακόζηλον zu entgehen, schlägt Hermogenes als Strategie die Vorbereitung (προκατασκευή bzw. προθεραπεία) durch den Dichter vor:Hermogenesinv. 4, 12
Ἰστέον μέντοι, ὅτι τὰ κακόζηλα ἔστι πολλάκις ἰᾶσθαι τῇ προκατασκευῇ καὶ προθεραπείᾳ· τὰ γὰρ προμαλαχθέντα τῇ ἑρμηνείᾳ νοῦν εἰσάγει, ὅθεν καὶ τὸ τόλμημα προσδοκᾶται τοῖς ἀκούουσιν, ὃ καὶ πρὶν λεχθῆναι ἀσφαλὲς εἶναι δοκεῖ, γυμνὸν δ’ ἂν τεθῇ πρὸ τῆς κατασκευῆς τοῦ λόγου, κακόζηλον ἔδοξεν ἢ τῷ νῷ ἢ τῷ λόγῳ. (Hermog. inv. 4, 12 = 202, 16–203, 1 Rabe)
(„Man muss freilich wissen, dass Stilfehler [κακόζηλα] häufig durch Vorbereitung [προκατασκευή] und Vorsorge [προθεραπεία] geheilt werden: Was nämlich durch die Wortwahl vorher abgeschwächt wurde, erregt einen Gedanken, von dem seitens der Hörer ein Wagnis erwartet wird, das, noch bevor es ausgesprochen wurde, den Anschein der Glaubwürdigkeit erweckt, wenn es aber ungeschützt gesagt wurde, bevor noch die Rede entsprechend ausgerüstet wurde, so erscheint es entweder als gedankliches oder sprachliches κακόζηλον.“)
Um dies zu illustrieren, zitiert Hermogenes die Kyklopenepisode aus der Odyssee:
καὶ σκόπει, πῶς καὶ Ὅμηρος ἐποίησεν· ὡς γὰρ λέξειν ἔμελλεν: ‘ἧκε δ’ ἀπορρήξας κορυφὴν ὄρεος μεγάλοιο’ <Od. 9, 481>, φοβούμενος τούτου τὸ ἀδύνατον προκατασκευάζει τοιοῦτον ἄνδρα τῷ λοιπῷ διηγήματι, ὡς μηδὲ τὸν περὶ τούτου λόγον ἄπιστον καταστῆναι λεχθέντα, τῷ τε τροφὰς αὐτῷ παραθεῖναι μείζονας ἢ κατὰ ἄνθρωπον τῷ τε ἀποδοῦναι αὐτῷ ῥόπαλον βαστάζειν, οἷον οὐκ ἄνθρωπος, καὶ λίθον καὶ τῷ τὴν ἰδέαν αὐτοῦ διελθεῖν ὡς μεγάλην καὶ φοβερὰν καὶ τῷ εἰπεῖν ‘οὐδὲ ἐῴκει | ἀνδρί γε σιτοφάγῳ, ἀλλὰ ῥίῳ ὑλήεντι’ <Od. 9, 190–191>· πάντες γὰρ οἱ περὶ τούτου προγυμνασθέντες λόγοι πιστὸν ἐποίησαν εἶναι δοκεῖν τὸ παράδοξον τὸ περὶ τοῦ Κύκλωπος ῥηθὲν τὸ ‘ἧκε δ’ ἀπορρήξας κορυφὴν ὄρεος μεγάλοιο’ <Od. 9, 481>· εἰ γὰρ καὶ τοιοῦτος ἦν, οἷον αὐτὸν προκατεσκεύαζεν, οὐδὲν ἦν τὸ καὶ τοιοῦτον αὐτὸν ποιῆσαι δυνηθῆναι. (Hermog. inv. 4, 12 = 203, 1–18 Rabe)
(„Und schau, wie auch Homer das bewerkstelligt hat. Er wollte nämlich sagen ‘er riss ab die Kuppe von einem großen Berg’, fürchtete aber die Unmöglichkeit dabei und leitete deshalb in der restlichen Erzählung auf einen solchen Mann hin, sodass das, was über ihn gesagt wurde, nicht unglaubwürdig würde, indem er ihm nämlich Nahrung zuwies, die über das Menschenmaß ging, und indem er ihn eine Keule tragen ließ, die kein Mensch tragen könnte, und einen Stein, und indem er seine Gestalt als groß und furchteinflössend beschrieb, und indem er sagte: ‘und er glich nicht einem brotessenden Manne, sondern einer bewaldeten Felsenkuppe’. Alle diese vorbereitenden Reden aber über ihn bewirkten, dass das Paradoxon, das vom Kyklopen ausgesagt wurde, nämlich ‘er riss ab die Kuppe von einem großen Berg’, glaubhaft erscheine. Wenn er nämlich so war, wie er ihn vorbereitend geschildert hatte, so war es für ihn ein Leichtes, etwas von dieser Art tun zu können.“)
Vorbereitung durch den Dichter – Hermogenes verwendet nicht den üblichen Terminus προδιόρθωσις36 – kann also dem Eindruck mangelnder Glaubhaftigkeit vorbeugen.37 Eben diese vorbereitende Strategie identifiziert nun ein Scholion zuHomerOd. 9, 187 Od. 9, 187, wo eine Beschreibung des Kyklopen gegeben wird:
ἔνθα δ’ ἀνὴρ] εἰκότως προσυνίστησι τὸ μέγεθος, ἵνα ἀξιόπιστος φανῇ τὰ <Od. 9, 287–293> δύο σώματα σιτούμενος. πλείστας δὲ παραβολὰς ποιεῖται τοῦ μεγέθους αὐτοῦ. διὸ καὶ ὄρει ἄνθρωπον εἴκασεν ὡς ὑπερβάλλοντα παντὸς ζῴου μέγεθος, καὶ οὐδ’ ὄρει ἁπλῶς, ἀλλὰ <Od. 9, 191> ῥίῳ ὑλήεντι, ὅ ἐστιν ὄρει τῷ ὑψηλοτέρῳ καὶ τούτῳ ὑλήεντι. τοῦτο δέ ἐστιν ὑπερβολὴ ὑπερβολῆς. (schol. Q ad Od. 9, 187 = 421, 10–15 Dindorf)
(„Seine Größe stellt er im Voraus dar, wobei er Wahrscheinlichkeit erzeugt, nämlich damit es glaubwürdig erscheint, dass er zwei Menschenleiber frisst. Die meisten Gleichnisse macht er bezüglich der Größe. Deswegen vergleicht er auch einen Menschen mit einem Berg, weil er die Größe jedes Lebewesens übertrifft, und nicht einfach mit einem Berg, sondern mit einem bewaldeten Gipfel, also mit einem höheren und bewaldeten Berg. Das ist die Übertreibung der Übertreibung.“)38
Homer hat demnach den an sich anstößigen, weil unrealistischen Gedanken vom losgerissenen Berggipfel durch den Gang der Erzählung und die vorbereitenden Schilderungen des Kyklopen, die dem Publikum die übermenschliche Kraft Polyphems eindrucksvoll vor Augen gestellt hatten, erträglich gemacht.39 Das war möglich, weil Homer sein Kyklopenabenteuer in einem langen, beinahe das ganze neunte Buch der Odyssee umfassenden Narrativ entwickelt. Bei der ersten von Seneca d.Ä. bzw. Maecenas zitierten Vergilstelle stellen sich die Dinge hingegen anders dar: Acmon ist eine Nebenfigur, außer den wenigen in Aen. 10, 127–129 gegebenen Information erfahren wir nichts weiter von ihm – eine umständliche Vorbereitung wie bei Homer war hier nicht möglich. Vergil musste den hyperbolischen Gedanken durch die