seramque dedit per membra quietem] tardam, quippe in bellicis curis. (Serv. ad Aen. 8, 30 = II 203, 21–22 Thilo-Hagen)
Deutlicher wird der anonyme Verfasser eines Veroneser Scholions, der die bekannten Worte des Schlafgottes aus dem zweiten Buch der Ilias mit einem Hinweis auf ihre ethische Relevanz für den dux zitiert:
<seramque – quietem>] Ut dictum est: Οὐ χρὴ παννύχιον εὕδειν βουληφόρον ἄνδρα <Il. 2, 24> quod duci convenit. (schol. Ver. 439, 13–14 Hagen = 117, 16–19 Baschera)
Diese Besonderheiten des epischen Verhaltenskodex, den die antiken Kritiker an die Texte von Homer, Apollonios bzw. Varro und Vergil in vergleichbarer Weise anlegten, sind zu berücksichtigen, wenn man den Vorschlag Ovids, Varros zweiten Halbvers zu tilgen, richtig verstehen will. Vergleicht man die Übertragung Varros und stellt sie in den aus Apollonios zu rekonstruierenden Kontext, so ergibt sich nach antiker Vorstellung ein Widerspruch. Man kann nämlich schwerlich davon sprechen, dass die genannten Personengruppen, die trotz ihrer schweren Sorgen vom Schlaf überwältigt wurden, nach ihrem Einschlafen einen „friedlichen“ Schlaf genossen hätten. Ähnliches gilt auch für die Situation der Argonauten in dieser Nacht: Jason hatte kurz zuvor von den Aufgaben erfahren, die er zu vollbringen hat, und sich auf das risikoreiche Zaubermittel Medeas eingelassen. In dieser Situation wie Varro davon zu sprechen, dass sich „alles in friedlicher Ruhe niedergelegt“ hätte, erscheint nach den Maßstäben der Figurenpsychologie unglaubwürdig.
Dass placidus als Adjektiv für die nächtliche Ruhe der besorgten Bevölkerung nicht passen kann, zeigt auch Seneca d.J., der denselben Varrovers zitiert, der schon bei seinem Vater kritisiert wurde. Nach Seneca schließen sich nämlich innere Erregtheit und die in noctis placida quies zum Ausdruck kommende Vorstellung aus:Seneca d.J.ep. mor. 56, 5–6
… Nam quid prodest totius regionis silentium, si affectus fremunt? ‘Omnia noctis erant placida composta quiete.’ Falsum est: nulla placida est quies nisi quam ratio composuit; nox exhibet molestiam, non tollit, et sollicitudines mutat. (Sen. ep. mor. 56, 5–6)
Seneca d.J. will sagen: Nur die durch ratio erworbene Ruhe ist wirklich friedlich; die Beseitigung äußerer Störfaktoren trägt nichts zur inneren Ruhe bei. Wen die Nacht überwältigt hat, obwohl er eigentlich an Ruhe nicht denken kann – wie die Argonauten oder die anderen bei Apollonios genannten Personengruppen –, der genießt nicht eigentlich eine friedliche Ruhe, sondern tauscht nur die Unruhe am Tage mit der Drangsal bei Nacht ein.
Werfen wir abschließend einen kurzen Blick auf die vergilischen Schlafszenen und die hier verwendeten Adjektive, um die bisher vorgebrachten Überlegungen zu überprüfen. An der von Seneca d.Ä. zitierten Stelle Aen. 8, 27, die der Szenerie bei Apollonios bzw. Varro an Gespanntheit und innerer Dramatik entspricht, verwendet Vergil – wie sich nun sagen lässt: stilistisch begründet – das Adjektiv altus – und nicht placidus –, um den Schlaf zu charakterisieren. – Nach der Abfahrt des Aeneas besteht – außer für Dido – kein Grund zur Sorge mehr. Dass die Männer des Aeneas bei der Abfahrt froh gestimmt waren, hat die Königin selbst ihrer Schwester Anna berichtet (Aen. 4, 418). Und wenn man sich erinnert, welches Skandalon die Verbindung zwischen Aeneas und Dido bei der karthagischen Bevölkerung und bei den angrenzenden Völkern darstellte15, erscheint es plausibel, dass nach der Abfahrt der trojanischen Gäste auf Seiten der Karthager ein begründetes Gefühl der Sorglosigkeit vorherrschend war. Hier passen also die Wendungen, die Vergil in bewusstem Anklang an Varros Neugestaltung des Apollonios verwendet.16 – Aufschlussreich ist schließlich im Kontrast zu den zuletzt genannten Stellen Aen. 1, 247–249, wo Venus zu Jupiter von Antenor spricht, der – im Gegensatz zu Aeneas – das Ziel seiner Reise erreicht und Padua gegründet hat, demnach also auch keine Sorgen mehr leidet und seine friedliche Ruhe genießen kann. Auch hier finden sich – im letzten Vers – eindeutige Bezüge zu Varro (Aen. 1, 247–249): Hic tamen ille urbem Patavi sedesque locavit | Teucrorum, et genti nomen dedit, armaque fixit | Troia; nunc placida compostus pace quiescit.
Abschließend lässt sich also zusammenfassen: Ovid kritisiert bei Varro die Verwendung von placidus, weil es nicht zu der unmittelbar zuvor – für uns nur bei Apollonios, aber sicherlich auch in der Übertragung Varros – geschilderten sorgenvollen Welt passt. Durch die Streichung des zweiten Halbverses ändert Ovid den Sinn insofern, als er jetzt sagt, dass die Nacht Besitz von allem ergriffen hätte, und nähert so den Varrovers an die parallele Schilderung bei Homer an, wo beschrieben wird, dass der Schlaf als πανδαμάτωρ Gewalt über die Achaier ausübt. Das zugrundegelegte ästhetische Kriterium ist das der psychologischen Folgerichtigkeit bzw. Plausibilität (πιθανότης), wonach die Art des Schlafes mit der äußeren Situation der Schlafenden übereinstimmen muss. Das gibt aber nun gleichzeitig ein Kriterium an die Hand, um Vergils Änderung der varronischen Vorlage zu erklären: Altus nimmt den bei Varro vorliegenden Widerspruch zurück, die Stelle ist einer möglichen Kritik weniger stark ausgesetzt.
3.3 Zusammenfassung
In seinen programmatischen Äußerungen zeigt sich Seneca d.Ä. ganz auf der Höhe der stilkritischen Debatten seiner Zeit (→ Kap. 3.1). Er nimmt eine „moderne“ Position ein, wenn er die künstlerische imitatio einer Vielzahl von anerkannten Vorbildautoren als eine Methode beschreibt, dem aktuellen rednerischen Verfallszustand abzuhelfen. Seine Sammlung von Controversiae und Suasoriae hat weniger systematischen Anspruch im Sinne einer Theorie der imitatio, als vielmehr den Zweck, anhand konkreter Fälle Kategorien gelungener und misslungener Nachahmung vorzuführen. – In beiden behandelten Beispielen wird Vergils Kunst der imitatio als vorbildlich vorgestellt. Dies erfolgt jeweils vor der Kontrastfolie einer Prosadeklamation: Im Falle von suas. 1, 12 (→ Kap. 3.2.1) ist es ein aus Homer geschöpfter Abschnitt einer Übungsrede des griechischsprachigen Deklamators Dorion, der mit Vergils Homer-imitatio verglichen wird, in contr. 7, 1, 27 (→ Kap. 3.2.2) eine Formulierung des Cestius. Im letzteren Fall ist die Vergleichstechnik besonders raffiniert: Cestius imitiert und verfehlt Vergil; Vergil aber hat an selber Stelle wiederum Varro imitiert und dabei auch Modellstellen aus Homer und Apollonios Rhodios und deren philologischen Diskussionszusammenhang berücksichtigt. Als Anhang wird ein eigener Vorschlag Ovids referiert, der eine Schwachstelle in Varros Versen kenntlich macht: Wenn Varro in seiner Nachtschilderung die Menschen ruhig schlafen lässt, verstößt er gegen die Forderung nach psychologischer Glaubwürdigkeit. Erst durch diesen Kommentar Ovids wird deutlich, worin der Vorzug Vergils vor seinem Modell besteht: In der Aeneis ist nur vom tiefen Schlaf die Rede – der „Fehler“ Varros wird also vermieden. Auf ähnliche Weise führt suas. 1, 12 das Thema der Glaubwürdigkeit ein, diesmal aber in sachlicher Hinsicht: Vergil stellt den Steinwurf des Kyklopen viel vorsichtiger und den Gegebenheiten der Realität entsprechend dar, wohingegen Dorion seine Schilderung durch unrealistische und effekthascherische Details belastet. In beiden Abschnitten wird die imitatio also kontrastiv vor dem Kriterium der Glaubwürdigkeit bewertet, wobei in suas. 1, 12 Glaubwürdigkeit als Realismus im sachlichen Sinne – d.h. als Übereinstimmung mit der Erfahrungswirklichkeit –, in contr. 7, 1, 27 als Realismus im psychologischen Sinne gemeint ist.
4. Gellius, Noctes Atticae
4.1 Die Synkrisis als literaturkritische Kleinform in den Noctes Atticae
4.1.1 Enzyklopädische, rhetorische und grammatische Bildung bei Gellius
Über ein Jahrhundert trennen Seneca d.Ä. von Gellius, dem wir mit den beiden Kapiteln 9, 9 und 13, 27 seiner Noctes Atticae zwei wichtige Beiträge zur Frage der relativen Bewertung Vergils und Homers verdanken.1 Wie bereits ausgeführt, war Vergils kanonische Stellung zu Gellius’ Zeit, also in der zweiten Hälfte des zweiten Jhdt. n. Chr., gefestigt2 und sein Verhältnis zum Vorbild Homer