Ich will diesen gedrängten Überblick über entscheidende Daten der VitaVita des Paulus mit einigen grundsätzlichen Bemerkungen abschließen. Es wurde bereits mehrfach erwähnt, dass Paulus in einem historischen Sinn nicht der Begründer des Christentums ist. Wir müssen uns freimachen von der Vorstellung, im ersten Jahrhundert Judentum und Christentum klar voneinander abgrenzen zu können. Jüdische Existenz unter Einbeziehung des Bekenntnisses zu Jesus Christus ist grundsätzlich möglich. Christliche Existenz unter Beibehaltung des jüdischen Rahmens ebenso. Klarere Konturen werden in einigen Regionen zum Ende des ersten Jahrhunderts erreicht, indem etwa durch jüdische Jurisdiktion Christusgläubige aus der SynagogeSynagoge ausgeschlossen werden (Joh 12,42; 16,2) und indem Christen von der Synagoge abwertend als der Synagoge des Satans sprechen (Apk 2,9; 3,9). Selbst der römische Staat scheint sich erst zu Beginn des zweiten Jahrhunderts deutlicher auf eine Unterscheidung zwischen Juden und Christen einzustellen.
Welche Gestalt hat das Selbstverständnis des Apostels? Paulus sagt in Röm 11,1: „Auch ich bin ein Israelit, vom Geschlecht Abrahams, aus dem Stamm Benjamin.“ Unzweideutig reklamiert er sein Jude-Sein und spricht von den Juden als von seinen Brüdern (Röm 9,3). Und doch erscheint er mir wie ein Mann oder eine Frau in einer Trennungsphase, in der zur Wahrung der eigenen Sicherheit und zum eigenen Schutz der alte Zustand demonstrativ behauptet wird, in Wahrheit aber schon längst andere Wege beschritten werden. In dem Galaterbrief, wohl nur wenige Jahre vor dem Römerbrief verfasst, zählt Paulus die Heidenchristen und sich selbst zu den Söhnen der Freien und eben nicht zu den Söhnen der Sklavin, die für das gegenwärtige Jerusalem steht (Gal 4,21–31). Paulus befindet sich in einer polemischen Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit (in dieser Hinsicht auch Phil 3,4–8) und mit dem Judentum seiner Zeit. Schärfste Attacken wechseln mit einem Werben um IsraelIsrael. Einmal steht die Tora ganz auf der Seite der Sünde, des Todes des Fleisches (Röm 5,12f.; 7,7–9.13), dann aber ist die Tora gerecht, heilig und gut (Röm 7,12). Gottes Zorn ist schon über Israel gekommen (1 Thess 2,16), dann aber hofft Paulus auf eine zukünftige Rettung Israels (Röm 11,26). Auch wenn man die Paulusbriefe in der Chronologie ihrer Entstehung liest, bleiben Ungereimtheiten, kann nicht alles mit in sich folgerichtigen WandlungenWandlungen erklärt werden. Freilich ist unverkennbar, dass Paulus in seinem letzten Brief, dem Römerbrief, gerade im Blick auf Israel, die Schrift und die alttestamentlich-jüdische Heilsgeschichte Linien zieht, wo er zu früheren Zeiten Schlussstriche gezogen hätte (Röm 1,2.16; 3,21.31 u.ö.)16, andererseits aber auch zu einer Universalisierung des Christusgeschehens auf Juden und Heiden durchdringt (Röm 1,18–3,20; 3,23; 5,12), die den früheren Schreiben noch abgeht.17 Die Vorstellung, eine neue Religion zu gründen und seinerseits als Religionsstifter aufzutreten, wäre ihm nach meiner Sicht absurd vorgekommen.18 Christus steht als der Gesandte (Gal 4,4) in der Heilsgeschichte, die alttestamentliche Schrift fungiert als Zeuge des Evangeliums. Gleichzeitig muss er erfahren, dass Israel, dem in erster Linie das Kommen des Messias Jesus Christus gilt (vgl. das „zuerst“ in Röm 1,16), in seiner Mehrheit seine Verkündigung und diejenige anderer Missionare ablehnt. Das Verhältnis des Paulus zu seinem Volk Israel ist daher ausgesprochen ambivalent. Für Paulus bleibt grundsätzlich der Rahmen jüdischer Theologie in Bezug auf die Schrift bestimmend, auch wenn er wesentliche Inhalte, wie am Beispiel der Speisegebote und der Beschneidung gezeigt, mit Blick auf die Öffnung des Evangeliums zu den Heiden verlässt. Man kann jedoch nicht sagen, alle Elemente der Theologie des Paulus seien jüdisch und einander nur neu zugeordnet. Nein, diese Elemente haben in dem Zentrum der Christusverkündigung eine neue Mitte gefunden, die sich zu den überkommenen Elementen sowohl affirmativ als auch kritisch, aber auch negierend verhält. An diejenige Stelle im Gesamtsystem, die zuvor die ToraTora einnahm, ist nun Jesus Christus getreten.19 Es lag ja in der Konsequenz der Regelungen der Tora, eine Grenze IsraelsIsrael zur paganen Umwelt zu ziehen. Wenn Paulus den Glauben an Jesus Christus den Werken des Gesetzes20 gegenüberstellt, dann überschreitet er die Grenzen jüdischer Identität.
III. Paulus als Begründer des Christentums
Paulus ist nicht der Begründer des Christentums, wirkungsgeschichtlich jedoch ist das Christentum, jedenfalls in der Gestalt der großen abendländischen Kirchen, ohne Paulus, und hier vor allem ohne seinen Brief an die Römer, nicht zu denken.1 Hans Hübner hat es drastischer formuliert: „Ohne Paulus wäre das Christentum zunächst eine jüdische Minisekte geblieben, bald reif für den Kehrricht der Weltgeschichte“.2 An Paulus haben sich die Geister geschieden. Das JudenchristentumJudenchristentum des zweiten Jahrhunderts erkennt in ihm einen ApostatenApostat, einen Abgefallenen.3 Weil Markion Paulus schätzt, nennt Tertullian Paulus den haereticorum apostolus.4 Doch nicht nur bei Markion, der ausschließlich einen Kanon mit paulinischen Briefen und dem Lukasevangelium gelten ließ5, auch in der christlichen Gnosis der Nag Hammadi Codices aus Oberägypten begegnen Autoren in bewusster Paulustradition und mit bewusster Paulusrezeption.6 Wirkungsgeschichtlich ist nicht zu verkennen, dass die paulinischen Briefe für die sich ausbildende Kirche hinreichend Argumentationshilfen bereithielten, um sich vom Judentum zu distanzieren.
Die überragende Bedeutung, die Paulus für die Begründung der christlichen Religion zukommen sollte, ist engstens verknüpft mit der Ausbildung des neutestamentlichen KanonsKanon und hierbei wiederum mit der dominanten Stellung paulinischer Briefe gegenüber allen anderen apostolischen Dokumenten. Ab der zweiten Missionsreise begegnen uns in den Paulusbriefen eine Vielzahl von Namen, die so etwas wie einen engeren und weiteren MitarbeiterkreisMitarbeiterkreis wiedergeben.7 Gelegentlich zeichnen diese Mitarbeiter, wie etwa Timotheus und Silvanus, bereits im Präskript der Briefe als Mitverfasser. Hans Conzelmann hat von einer Schule des PaulusSchule des Paulus gesprochen, ohne dies näher auszuführen.8 Bereits eine Generation nach Paulus schreiben die Mitarbeiter oder Schüler Briefe an urchristliche Gemeinden oder an Privatpersonen im Namen des Paulus. Es sind dies pseudepigraphe Schreiben; aus ihnen spricht zunächst eine formale Bindung an Paulus, da in ihnen nicht einfach paulinische Theologie wiedergegeben wird. Paulus ist die maßgebliche Gestalt, die Autorität, und wer in seinem Namen schreibt, gewinnt Anteil an seiner Autorität. Zur gleichen Zeit verfasst LukasLukas, der gleichfalls zur weiteren Paulus-Schule gehört (Kol 4,14; 2 Tim 4,11), in weiten Teilen seiner Apostelgeschichte eine erste Paulus-Biographie, wenn auch nicht im streng literaturgeschichtlichen Sinn des Wortes. Die primäre Paulusrezeption scheint zunächst von der Person des Paulus bestimmt zu sein, nicht von seinen Schriften und der in ihnen festgehaltenen Theologie.
Wirkungsgeschichtlich bedeutsam ist der Befund, dass man in den urchristlichen Gemeinden recht früh begonnen hat, die BriefeBriefe des Paulus zu sammeln, auszutauschen und abzuschreiben. Sie ersetzen den Apostel während seiner Abwesenheit und werden in den Gemeindeversammlungen verlesen. Hinzu kommen noch Grußschreiben (Röm 16,1–23), Gemeindebriefe an den Apostel (1 Kor 7,1), Gemeinderundschreiben (Apg 15,23–29), Empfehlungsbriefe (2 Kor 3,1) u.a. Diese SammlungenBriefsammlungen bilden den Grundstock dessen, was einmal die Größe „Neues Testament“ werden soll. In den einzelnen Ortsgemeinden wird das Neue des christlichen Glaubens noch vor jeglicher dogmatischen, organisatorischen und institutionellen Verfestigung gesucht und gefunden im Lesen, im Austausch und in der Sammlung frühchristlicher Briefe. Frühe Sammlungen von Paulusbriefen werden für EphesusEphesus und RomRom vermutet, zunächst wohl als sog. Kleinsammlungen, in denen die großen Gemeindebriefe dominieren. Die Pastoralbriefe setzen bereits eine frühe Zusammenstellung der Paulusbriefe voraus und ergänzen sie in testamentarischer Absicht. Freilich ist der Prozess dieser Sammlung nur hypothetisch zu erschließen und die gegenwärtige Forschung bewegt