Oftmals hat Paulus den massiven, gelegentlich sogar für ihn lebensbedrohlichen Gegensatz der jüdischen SynagogalgemeindenSynagogalgemeinden erfahren (2 Kor 11,24–26). Diese Verfolgungen in der Diaspora dürften den jüdischen Gemeinden in Judäa nicht unbekannt geblieben sein, möglicherweise sogar ihre Unterstützung gefunden haben.2
Im weiteren Vorfeld des jüdischen Kriegs ist in Judäa eine zunehmende Distanzierung gegenüber römischem Einfluss zu beobachten. Man kann annehmen, dass innerhalb der Urgemeinde aufgrund ihrer Scharnierstellung zwischen jüdischer Tempelgemeinde und heidenchristlichen Gemeinden in der Diaspora Kontakte zu Letzteren sehr sorgsam geprüft wurden, um die eigene Stellung nicht zu gefährden.3
Die Verpflichtung für das Kollektenwerk liegt mittlerweile sieben Jahre zurück. Zwischenzeitlich hat Paulus allenfalls ein einziges Mal Jerusalem besucht (Act 18,22$Apg 18,22), allerdings dann nicht, um die KollekteKollekte abzuliefern. Über den Verbleib der Sammlung in Galatien erfahren wir nichts.4 Die nach Jerusalem mitgeführte Kollekte stammt, wie oben erwähnt, aus den Gemeinden in Makedonien und der Achaia. Sie scheint nicht das Ergebnis einer langjährigen Sammlung zu sein, sondern wurde wohl kurz vor der Abreise in Eile fertiggestellt.5
Der Stellenwert von Geldgaben innerhalb der antiken Gesellschaft lässt häufig eine soziale und politische Brisanz erkennen. Paulus spielt in Röm 15,26f.$Röm 15,26f. bewusst auf den mit der Geldgabe verbundenen Aspekt der Anerkennung des Gebers durch den Empfangenden an und genauso umgekehrt6. Er stellt aber die Kollekte nicht mehr als Lastenausgleich zwischen Armen und Reichen im Sinne von 2 Kor 8,13f.$2Kor 8,13f. dar. Paulus setzt mithin die Kollektenthematik als Mittel für die Anerkennung seiner Mission ein.7
Die Darlegung dieser Thematik im Römerbrief kann kaum anders verstanden werden, als dass Paulus darauf baut, dass die römische christliche Gemeinde, möglicherweise auch mit Hilfe der Kontakte zu den römischen Synagogen, sich für ihn in Jerusalem bei der Tempelgemeinde und bei der Urgemeinde einsetzt.8
Über den Verbleib der KollekteKollekte kann man nur spekulieren. Die häufig aufgemachte Alternative „Annahme oder Ablehnung“ ist möglicherweise zu einfach.9 Das Schweigen der Apostelgeschichte deutet doch wohl an, dass sich die Übergabe nicht reibungslos, auf jeden Fall aber nicht im Sinne ihrer ursprünglichen Intention vollzog. Ich halte es für möglich, dass die Aktion zur Auslösung der Nasiräer im Kontext der Kollektenabgabe interpretiert werden kann. Es müsste dies zugleich – und so stellt Act 21,24 es ja auch dar – in der Absicht des Paulus ein letzter Versuch gewesen sein, in Jerusalem seinen rechtgläubigen Standort unter Beweis zu stellen.10
Es ist abschließend die Frage zu stellen: Weshalb entschließt sich Paulus in Abänderung seiner früheren Überlegung (1 Kor 16,1–4$1Kor 16,1–4), die Kollekte jetzt persönlich nach Jerusalem zu bringen, obwohl er um die Gefahren dieser Reise weiß und obwohl sein Missionsplan ihn nach Spanien führt? Wäre „Paulus nicht besser bei seinem ursprünglichen Plan geblieben […], die Reise nach Jerusalem nicht selbst zu unternehmen“11? Weshalb kann die Spanienmission nicht angetreten werden, ohne zuvor persönlich nach Jerusalem gegangen zu sein? Es will scheinen, als hinge die Zukunft der paulinischen Mission an dieser Jerusalemreise. Bei der Beantwortung dieser Frage sind vielleicht „mannigfache Auskünfte von gleicher Wahrscheinlichkeit und Unsicherheit“12 möglich. Meine Vermutung geht dahin, dass einerseits der Verweis auf die Notwendigkeit der Beendigung der Kollekte13 und ihrer „versiegelten“ Übergabe14 in Röm 15,28$Röm 15,28 anzeigt, dass für Paulus die Einlösung der Kollektenverpflichtung zu diesem Zeitpunkt unabdingbare Voraussetzung jeglicher weiterer Missionsarbeit war. Andererseits aber sucht derjenige PaulusTod des Paulus, der den Römerbrief immer mit Blick auf Judäa und Jerusalem geschrieben zu haben scheint15, der vor allem in Röm 9–11$Röm 9–11 eine Antwort auf die für ihn sich als Aporie darstellende Rolle Israels angesichts der Verkündigung des Evangeliums gesucht und gefunden hat, nun auch – nach Jahren – die offene Begegnung mit Israel in Judäa und der Urgemeinde in Jerusalem. Er hat die Hoffnung, dass die Gebete der römischen Gemeinde und die Botschaft des Römerbriefs ihm vorausgehen, dennoch wissend, dass diese letzte Reise unter todesbedrohlichen Vorzeichen steht.
Ist Paulus der Begründer des Christentums?*
* Zuerst erschienen: Friedrich Wilhelm Horn, „Ist Paulus der Begründer des Christentums“, in: Hermann Deuser/Gesche Linde/Sigurd Rink (Hg.), Theologie und Kirchenleitung. Festschrift für Peter Steinacker zum 60. Geburtstag, MThSt 75, Marburg: N.G. Elwert, 2003, S. 31–44.
In der frühchristlichen Apostelgeschichte „Die Taten des Paulus und der Thekla“ aus dem Ende, vielleicht sogar der Mitte des 2. Jahrhunderts findet sich das erste Portrait des Paulus: „ein Mann, klein von Gestalt, mit kahlem Kopf und krummen Beinen, in edler Haltung mit zusammengewachsenen Augenbrauen und ein klein wenig hervortretender Nase, voller Freundlichkeit; denn bald erschien er wie ein Mensch, bald hatte er eines Engels Angesicht“ (Aa III, 3).1 Ist dieser Mann der Begründer des Christentums?
Ich möchte eine grundsätzliche Frage thematisieren, zu der jeder, seien er oder sie nun Studierende oder Lehrende der Theologie, Christin oder Christ in einer Kirche, gleich welcher Konfession, oder einfach jemand, der sich dem christlichen Kulturraum zugehörig weiß, eine Antwort suchen sollte. Das Christentum hat in einem historischen Sinn keinen eigentlichen Geburtsort, keine Geburtsstunde, kein Gebäude und keinen Offenbarungsgegenstand, die unverwechselbar einen Anfang markieren. Ist Paulus sein Religionsstifter? Diese Frage ist nicht neu, und sie begleitet die Wissenschaft spätestens seit der Aufklärungszeit bis in die Gegenwart.2 In einem ersten Teil möchte ich den forschungsgeschichtlichen Hintergrund dieser Frage an drei wesentlichen Positionen der neueren Theologiegeschichte skizzenhaft aufzeigen. Ein zweiter Teil wird den historischen Standort des Paulus umreißen, ein dritter Teil wird meine Antwort auf die Frage „Ist Paulus der Begründer des Christentums?“ geben. Methodisch wird hierbei unterschieden zwischen dem zu rekonstruierenden Selbstverständnis des Apostels Paulus und der Wirkungsgeschichte seiner Briefe.
I. Begründer oder zweiter Begründer des Christentums? Zur Forschungsgeschichte
Ich gehe im Folgenden zunächst auf drei theologiegeschichtlich klassische Positionen ein. Der von Georg Wilhelm Friedrich Hegel beeinflusste Tübinger Theologe Ferdinand Christian BaurBaur, Ferdinand Christian (1792–1860) thematisierte in seinen 1864 posthum herausgegebenen Vorlesungen über neutestamentliche Theologie1 das Verhältnis von Jesus zu Paulus im Rahmen eines geschichtlichen Entwicklungsprozesses. Jesus verkündete die kommende Herrschaft Gottes und formulierte Forderungen, wie ihr zu begegnen sei. Jesus machte jedoch nie seine Person zum Gegenstand der Lehre. Anders Paulus: Er, der kein Jünger Jesu war, gibt nicht die Botschaft Jesu weiter, sondern macht die Person Jesu zum unmittelbaren Gegenstand seiner Lehre. Nach Baur ist Paulus an der Verkündigung Jesu geradezu uninteressiert. Er blickt ausschließlich auf die Person Jesus, d.h. auf die im Glauben gedeutete Person. Hierbei steht der Tod Jesu und die Deutung dieses Todes beherrschend im Mittelpunkt. Dies stellt eine historische Diskrepanz zwischen der Verkündigung Jesu und der Lehre des Paulus dar. Nur in einer Hinsicht erkennt Baur eine Übereinstimmung zwischen der Lehre des Paulus und der Verkündigung Jesu. Schon Jesus habe, so Baur, in einem Gegensatz zum Judentum gestanden. Paulus aber habe diesen Gegensatz bewusst zur Geltung gebracht und in einer prinzipiellen Differenzierung zwischen Christentum und Judentum das Christentum zu einer selbstständigen absoluten Größe erhoben. „Ist nun das Christentum das, was es seinem wahren Wesen nach ist, erst im Unterschied vom Judentum, in dem bestimmten Bewusstsein seines vom Judentum verschiedenen Prinzips, so ist es erst durch den Apostel Paulus zu dieser selbstständigen absoluten Bedeutung erhoben worden.“2
Zwei Generationen später veröffentlichte der aus der Göttinger Religionsgeschichtlichen Schule stammende William WredeWrede, William3 (1859–1906) im Jahr 1904 in den populärwissenschaftlichen „Religionsgeschichtlichen Volksbüchern