Der 1996 veröffentlichte Aufsatz „Methodische Erwägungen zur Literarkritik der Paulusbriefe“ ist die grundlegende Darstellung der Sache aus der Feder von Walter Schmithals, weshalb eine etwas ausführlichere Berücksichtigung angebracht ist. Hier verbindet sich wiederum eine scharfe Kritik an der gegenwärtigen, auf Annahme einer literarischen Integrität der paulinischen Briefe bedachten, Position mit der Entfaltung der eigenen Sicht der Dinge, in der manches aus früheren Veröffentlichungen wiederholt, aber etliches doch präziser und auch begründeter dargelegt wird.
Walter Schmithals setzt ein mit dem von Johannes Weiß mehrfach betonten Sachverhalt, dass wir nicht mehr die Briefe des Paulus selbst, sondern nur noch eine kirchliche SammlungSammlung paulinischer Briefe haben, bei der die Interessen des Herausgebers bedacht sein wollen. So sei es schon auffällig, dass exakt 21 Briefe in das Neue Testament aufgenommen wurden, 7 katholische Briefe und 2x7 Paulusbriefe. Dass die Pastoralbriefe, „unzweifelhaft eine ursprünglich selbständige Einheit von drei gemeinsam entstandenen Schriften“33, in drei Briefe zerlegt wurden, um (als ursprüngliche Dreiersammlung wie die Johannesbriefe und Kol/Eph/Phlm) jetzt gemeinsam mit den anderen paulinischen Briefen und dem Hebr als 2x7 Paulusbriefe kanonische Bedeutung zu erlangen, weist auf die Bedeutung der Siebenzahl (vgl. aber auch die sieben Sendschreiben der Apk u.a.). Die älteste Sammlung der Paulusbriefe wurde, wie Walter Schmithals mit Blick auf den Kanon Muratori annimmt, durch die Korintherbriefe eingeleitet und fand im Römerbrief ihren Abschluss. Die redaktionelle Erweiterung 1Kor 1,2b$1Kor 1,2b und die sekundäre Schlussdoxologie in Röm 16,25–27$Röm 16,25–27 geben dieser Sammlung einen Anspruch, der über die angeschriebenen Ortsgemeinden hinausgeht.
Weiterhin sucht Walter Schmithals nach einer Erklärung für den Befund, dass sämtliche erhaltenen Briefe des Paulus in den Provinzen um die Ägäis abgefasst wurden und aus dem stark begrenzten Zeitraum der (2. und) 3. Missionsreise stammen.34 Er lehnt die zur Erklärung von Adolf Deissmann vorgetragene These ab, die Hauptsammlung der paulinischen Briefe gehe auf ein Kopialbuch zurück, in das Paulus Abschriften seiner Briefe der Reihe nach habe eintragen lassen. Walter Schmithals erkennt hinter dieser Sammlung nicht einen mechanisch arbeitenden Abschreiber, sondern einen bewussten Redaktor. Er schreibt, „als die Christen gegen Ende des 1. Jahrhunderts die Synagoge verlassen müssen, unter Verfolgungsdruck aus SynagogeSynagoge und Staat geraten und apokalyptische Stimmungen wach werden.“35 Der klarste Hinweis auf die Arbeit eines Redaktors liegt in den Zusammenstellungen und Umstellungen, die exemplarisch bei dem 1Kor erhoben werden. Ein brieflicher Zusammenhang der in sich völlig selbstständigen Passagen wird vermisst. Vielmehr hat ein Redaktor das Material thetisch geordnet und sekundäre Zusätze angebracht, deren Umfang „freilich erheblich größer [ist], als diese ebenso bekannten wie umstrittenen Beispiele zu erkennen geben“.36 Höchst kritisch setzt Walter Schmithals sich mit neueren Lehrbüchern37 auseinander, die methodisch von der Integrität der paulinischen Briefe ausgehen und Teilungshypothesen allenfalls dann ein Recht einräumen wollen, wenn ein Verständnis des Textes ohne sie nicht erreicht werden kann. Als Beispiel zitiere ich Udo Schnelle: „Es setzte sich die Einsicht durch, daß nicht allein die Möglichkeit, sondern die unbedingte Notwendigkeit von Teilungshypothesen als methodisches Prinzip gelten muß.“38 Walter Schmithals hingegen lehnt ein methodisches Primat für die Annahme der Einheitlichkeit kategorisch ab: „Vielmehr muß die Frage nunmehr sein, ob sich der jeweilige Brief am besten als literarische Einheit oder besser als Kompilation aus mehreren Schreiben verstehen läßt.“39 „Die Hypothese der IntegritätIntegrität eines Briefes hat nicht mehr Recht als die Hypothese einer redaktionellenSammlung Komposition.“40
Ein ausgezeichnetes Indiz für literarkritische Operationen bieten Situationsverschiebungen in den Paulusbriefen. Exemplarisch verdeutlicht Walter Schmithals dieses am Römerbrief: „Diese ‚SituationsdifferenzSituationsdifferenz‘ zwischen der Adresse des Röm und der Grußliste in Röm 16,1–20 ist m.E. ein völlig eindeutiger Grund, die Integrität des Röm nicht nur zu bezweifeln, sondern zu bestreiten.“41 Ihr Ausbleiben berechtigt andererseits aber nicht, die Integrität des Schreibens zu behaupten.
Walter Schmithals stellt mit guten Gründen manch psychologisierend vorgetragene Wertung – etwa die berühmt gewordenen schlaflos durchwachten Nächte – zur Erklärung von Brüchen in den paulinischen Briefen in Frage, um seinerseits festzuhalten: „Die literarischen Brüche, künstlichen Nähte und unerwarteten Einschübe sind angesichts der im übrigen unstrittigen schriftstellerischen Potenz des Paulus als solche ein wesentliches Kriterium jeder literarkritischen Analyse, das durch ein methodisches Prinzip wie das der ‚unbedingten Notwendigkeit von Teilungshypothesen‘ nicht entmachtet werden darf, ohne seinen wissenschaftlichen Rang zu verlieren.“42 Methodisch wird die Literarkritik auf „exegetische Überlegungen oder psychologische Einfühlung“43 zurückgreifen. Sie muss sich dennoch nicht den Vorwurf willkürlichen Arbeitens gefallen lassen, da es einen objektiven Nachweis zur Erklärung der literarischen Phänomene nicht gibt.44
Abschließend spricht Walter Schmithals von einem relativ objektiven literarischen Kriterium, das allerdings zu wenig beachtet werde. Es sind die DublettenDubletten und Ausstellungen von Stücken des Briefrahmens, die jetzt nochmals zusammengetragen werden. Sie finden sich im gesamten Corpus Paulinum mit Ausnahme von denjenigen beiden Schreiben, deren literarische Integrität unangefochten ist, dem Galater- und dem Philemonbrief. Antike Originalbriefe, in denen