Für das Ziel dieser Arbeit, aus sprachpragmatischem Blickwinkel die oben erwähnten sprachlichen Mittel und Strukturen in ihrer formalen und funktionalen Vielfalt in einer systematischen, nachvollziehbaren und verständlichen Art und Weise zu Gruppen zusammenzufassen (Stichwort Operationalisierbarkeit), erweist sich das Modell des „Nähe- und Distanzsprechens“ in seiner von Ágel / Hennig optimierten Variante, die seine konzeptionellen Voraussetzungen, Begriffe, Definitionen und seine Terminologie mit einschließt, als geeigneter Rahmen. Die Gliederung dieses Buches in Kapitel und Unterkapitel orientiert sich infolgedessen an den im Modell des Distanz- und Nähesprechens postulierten Beschreibungsparametern ‚Rolle‘, ‚Zeit‘, ‚Situation‘, ‚Code‘ und ‚Medium‘, den ‚Universalen Diskursverfahren‘, die sich diesen Parametern zuordnen lassen sowie den sprachlichen Mitteln, in denen sich diese Verfahren in einer Sprache manifestieren.
Alle im Buch vorgenommenen Analysen und kategorialen Bestimmungen von Nähemerkmalen folgen hierbei genau vorgeschriebenen Schritten, die ich am Beispiel der „Reaktive“ (Sieberg 2016, 101sqq.) folgendermaßen verdeutliche: Erster Schritt: Ausgehend vom Studium und der vorläufigen Analyse einiger Transkriptionen aus dem ‚CLUL-Korpus‘ sowie ersten Hinweisen aus der Sekundärliteratur fallen sprachliche Ausdrücke auf, die direkt nach dem Sprecherwechsel gebraucht werden, und deren Funktion darin zu bestehen scheint, spontan und effizient auf die vorhergehende Äußerung des Gesprächspartners zu reagieren. Zweiter Schritt: Im Modell – siehe seine vereinfachte und schematische Darstellung in ‚Kapitel 4‘ – findet man unter dem Beschreibungsparameter ‚Zeit‘ das universale Diskursverfahren ‚Einfache Verfahren der Einheitenbildung‘, dem sich diese Gruppe von ‚Reaktiven‘ zuordnen lässt, weil der Gebrauch von Ausdrücken wie claro, certo, exatamente, ai é, nem pensar, acho que sim, etc. auf den Einfluss dieses Verfahrens zurückgeführt werden kann, bzw. weil sich dieses Diskursverfahren in diesen sprachlichen Mitteln manifestiert. Dritter Schritt: Durch eine vertiefende Lektüre entsprechender Sekundärliteratur sowie eine weitere Suche im empirischen Material, die zu einer Vergrößerung des Repertoires von passenden tonalen Zeichen, Wörtern und Wortverbindungen führt, gelangt man schließlich zu einer Definition dieser Gruppe von Nähemerkmalen, die formale und funktionale Charakteristika der ‚Reaktive‘ so treffend und umfassend wie möglich bestimmt: „Sprecher gebrauchen Reaktive direkt nach dem Sprecherwechsel und verfügen mit ihnen über ein sprachliches Mittel, das es ihnen erlaubt, spontan Stellung zu den vorangehenden Äußerungen der Gesprächspartner und den mit ihnen verbundenen Geltungsansprüchen (illokutive Bestandteile der Sprechakte) zu nehmen“ (cf. Kapitel 6.2.1).
Angesichts des von mir gesteckten Ziels – man beachte nur die Vielzahl und Heterogenität der zu beschreibenden sprachlichen Erscheinungen – sollte es den Leser nicht verwundern, dass meine Recherchen keinen umfassenden Überblick über die entsprechende Sekundärliteratur liefern, die es zu den jeweiligen Phänomenen im Bereich der germanistischen und luso-brasilianischen Sekundärliteratur gibt. In Orientierung an dem Ziel, das bereits im Vorwort formuliert wurde, geht es in dieser Arbeit vielmehr darum, durch die Übernahme eines Konzepts der germanistischen GSF portugiesisches Nähesprechen angemessen und durch nachvollziehbare Operationen beschreiben zu können. Folglich liegt auch der Schwerpunkt und der Ausgangspunkt dieser Recherche vornehmlich im Bereich der germanistischen Sekundärliteratur zur GSF.
Letztendlich stelle ich mir diese Arbeit als Anregung und als zusätzliche Orientierungshilfe für weitere Forschungen zum gesprochenen Portugiesisch vor. Dabei wäre auch eine Anwendung auf andere romanische Sprachen durchaus denkbar. Dieser Optimismus beruht auf der besonderen Eignung des an dieser Stelle benutzten Konzepts und Modells, seiner Operationalisierbarkeit, seiner streng systematischen und hierarchischen Gliederung sowie auf der universalen Geltung seines Axioms und seiner Diskursverfahren.
Neben der bereits erwähnten Operationalisierbarkeit sowie Universalität seiner Parameter und Diskursverfahren bietet das Modell des ‚Nähe- und Distanzsprechens‘ den nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass sich auch der Sprachgebrauch von kommunikativen Praktiken der ‚Neuen Medien‘ – im Folgenden möchte ich für die Bezeichnung dieser Kommunikationsform den Terminus „keyboard-to-screen communication“ (Imo 2015) verwenden – im Rahmen dieses Modells systematisch erklären lässt. Ins Zentrum meiner Untersuchung stelle ich allerdings den Bereich des prototypischen Nähesprechens (Alltagsdialoge). Die Vorstellung und Interpretation einiger portugiesischer Tweets aus dem Bereich des peripheren Nähesprechens beschränke ich hingegen auf Kapitel und sprachliche Erscheinungen, für die sich eine solche Erörterung anbietet und besonders relevant ist – z.B. innerhalb der Beschreibungsparameter ‚Code‘ und ‚Medium‘.
Prinzipiell ließen sich auch die Nähesprachlichkeit anderer kommunikativer Praktiken der „keyboard-to-screen communication“ wie Einträge in Weblogs, Internetforen oder den Chats in sozialen Netzwerken wie Facebook etc. mit Hilfe des hier angewendeten Konzepts untersuchen. Alle diese kommunikativen Praktiken fallen durch einen Sprachgebrauch auf, der den Formen medial mündlichen Nähesprechens teilweise ähnelt und analoge Ausdrucksformen und Strukturen aufweist. Zudem handelt es sich um Formen, die zunehmend einen großen Teil unserer kommunikativen Wirklichkeit bestimmen und dabei radikale Veränderungen unserer zwischenmenschlichen Umgangsformen nach sich ziehen. Zum Anlass der Verleihung des ‚Konrad-Duden-Preises‘ äußerte sich Peter Schlobinski, Professor an der Universität Hannover, folgendermaßen zur Radikalität dieses Wandels (Schlobinski 2012, 18):
Die digitale Revolution integriert alle Errungenschaften vorangegangener Medienrevolutionen unter einem Dach. Multimedialität und -modalität, Medienkonvergenz und Transmedialität sind die Schlüsselbegriffe dieses Prozesses. Doch im Kern führt diese Mediamorphose zu einem integrierten, allumfassenden Kommunikationssystem, einem Unimedium, in dem reale, imaginär-fiktionale und virtuelle Welt aufeinander bezogen sind. Und das Unimedium globalisiert Sprache und Kommunikation in einer neuen Qualität. Es macht Kommunikation frei konvertierbar und die Währung sind Bits und Bytes.
Für den Sinn der vorliegenden Studie spricht zudem, dass die Forderung nach Beschäftigung mit der gesprochenen Sprache aus der Perspektive angewandter Linguistik zunehmend lauter wird17. Gerade in jüngster Zeit widmet sich die Didaktik der Fremdsprachenvermittlung gezielt der gesprochenen Sprache und ihrer Einbeziehung in den Fremdsprachenunterricht. Die Kenntnis zentraler Merkmale und das Beherrschen der spezifischen Ausdrucksmittel mündlicher Kommunikation werden zum integralen Bestandteil