Wie sehr sich diese Veröffentlichungen und die von ihnen fokussierten Themen mitsamt der Vielfalt und Aktualität der dabei zur Geltung gebrachten Konzepte und Methoden von den wenigen portugiesischen Untersuchungen unterscheiden, wird bereits bei einem Blick auf einige der Artikel deutlich, die ich an dieser Stelle nur exemplarisch vorstellen kann: Aus der vierten Ausgabe von 1999, Análise de Textos Orais (Vol. I des ‚Projeto Paralelo‘), ist u.a. der Aufsatz Marcadores conversacionais von H. Urbano (Seite 81–103) hervorzuheben oder der Beitrag Procedimentos de reformulação: a paráfrase von G. Hilgert (Seite 103–129). Im gleichen Band erschien ebenfalls ein Artikel mit dem Titel A sintaxe na língua falada (Seite 169–189) von Corrêa Dias de Moraes und o processo interacional (189–215) von Beth Brait. Obwohl man im Zusammenhang dieses Projeto Paralelo noch zahllose weitere Forschungsarbeiten nennen könnte, sei wenigstens noch auf den Beitrag Hilgerts A construção do texto falado por escrito na Internet in Band IV Fala e Escrita em Questão (2001) hingewiesen, in dem der Autor die Nähe kommunikativer Praktiken der ‚keyboard-to-screen communication‘ zur medial mündlichen Kommunikation ins Spiel bringt. Schließlich handelt es sich dabei um eine Analogie, die auch in der vorliegenden Arbeit thematisiert wird.
Wenn man sich dazu noch die zahlreichen Arbeiten zum Bereich der GSF anschaut, die außerhalb des ‚Projeto Paralelo‘ an brasilianischen Universitäten – besonders der USP in São Paulo – erschienenen sind, bekommt man einen Eindruck von der Quantität und Qualität der entsprechenden Forschungsarbeiten, deren noch ausführlichere Beschreibung aber an dieser Stelle nicht meine Aufgabe sein kann. Hervorzuheben wäre an dieser Stelle die besondere Situation, aus der heraus die bemerkenswerte Geschwindigkeit und Dynamik der Entwicklung entstehen konnte. Ich beziehe mich dabei auf den glücklichen Umstand, dass das NURC Projekt in den 70er Jahren bei seinen Forschungen zum brasilianischen Portugiesischen sozusagen bei Null anfangen musste, aus der Not eine Tugend machte, und der Erforschung des gesprochenen Brasilianisch von Beginn an eine gleichwertige Stellung einräumte.
Zur germanistischen GSF weist die brasilianische GSF – im Unterschied zu der eigentlich kaum in Erscheinung tretenden portugiesischen GSF – durchaus Ähnlichkeiten und Überschneidungen auf. Zu diesem Schluss gelangt man, wenn man sich die Quantität und Qualität sowie die zur Anwendung gelangte Vielfalt von Forschungskonzepten und Themen vor Augen hält, die die brasilianische GSF seit Mitte der 80er Jahre im Umfeld des NURC Projekts und des Projeto Paralelo charakterisiert.
Im Zusammenhang mit den bereits oben vorgestellten Fakten möchte ich einige der Grundpositionen, die beide Forschungstraditionen der GSF miteinander verbinden, wie folgend zusammenfassen: (a) Priorität deskriptiver Methoden und Korpus basierter Forschungen sowie der damit verbundenen Abkehr von normativ-präskriptiven Vorstellungen bei der Sprachbeschreibung, (b) ein Konzept von ‚Sprache‘, das neben dem schriftlichen Gebrauch des verbalen Codes dem ‚Sprechen‘ eine zumindest ebenbürtige Rolle zuerkennt: „a língua é um somatório de usos concretos“ (Castilho 2007, 101), (c) die Einbeziehung der sozialen Dimension sprechsprachlichen Handels: a língua como uma atividade social, […]e agimos sobre o outro (Castilho 2007, 101), (d) die Diskursbezogenheit der Untersuchungen zur GS, ohne die viele Erscheinungen der GS nicht erklärt werden könnten: „A língua se manifesta através da conversação, considerada como a articulação discursiva fundamental“ (Castilho 2007, 102), (e) die situative und damit raumzeitliche Gebundenheit sprechsprachlichen Agierens und ihre Auswirkung auf sprachliche Ausdrücke und Strukturen, (f) die Abhängigkeit der Bedeutung und der Funktionen sprechsprachlicher Einheiten von ihrem (selbst geschaffenen) textinternen Kontexten, aber auch von textexternen Kontexten und Präsuppositionen, (g) die Vorstellung eines dynamischen Dialogverlaufs in Analogie zu den Erkenntnissen der ‚Interaktionalen Linguistik‘25, durch den sich Bedeutungen und Funktionen der beteiligten Elemente erst im Diskursverlauf konstituieren, (h) die Einbeziehung von kommunikativen Praktiken konzeptioneller Mündlichkeit aus dem Bereich peripheren Nähesprechens, wie sie u.a. Hilgert mit seinem Begriff „texto falado por escrito na Internet“ (2000) vorschlägt etc.
Um die Grenzen möglicher Aussagen über die GS möglichst weit auszudehnen, verzichteten die beteiligten brasilianischen Linguisten in der Phase epistemologischer Reflexionen bewusst26 auf die Anwendung einer einzigen Methode und wählten einen ‚Methodenpluralismus‘, der u.a. die ‚Gesprächsanalyse‘, eine Beschreibung von Vorgängen der ‚Grammatikalisierung‘, ‚Freges Bedeutungstheorie‘, die ‚kognitive Linguistik‘, ‚den Funktionalismus der Prager Schule‘ sowie Labovs Erkenntnisse zur Soziolinguistik‘ mit einschließt (Castilho 2007, 102).
Esses pesquisadores deixaram deliberadamente de aderir à aplicação de uma teoria única, operando com princípios de variada ordem, num leque em que se incluem a Análise da Conversação, as idéias gramaticais de Halliday, Dik e Givón, a Semântica de Frege e a Semântica Cognitiva.
Ohne den Verdienst schmälern zu wollen, den sich die brasilianische GSF in einem relativ kurzem Zeitraum erworben hat, und zu dem besonders die Öffnung zur konzeptueller und methodischer Vielfalt beigetragen hat, scheint es m.E. durchaus sinnvoll, noch zusätzlich ein anderes Konzept wie das des Modells des ‚Nähe- und Distanzsprechens‘ mit in die Forschung hineinzunehmen. Dieses würde es erlauben, viele Einzelerkenntnisse, deren Zusammenhang und übergreifende Bedeutung sich durch die Heterogenität der angewendeten Untersuchungsmethoden dem Betrachter verschließt, aus der Sicht dieses Modells im Zusammenhang zu erschließen. Beispiel: die in eine gleiche Richtung zielende funktionale Bedeutung von sprachlichen Erscheinungen wie ‚tópicos marcados, ‚construções de clivagem‘ und ‚Operatoren in Operator-Skopus-Strukturen‘ wird erst wirklich verständlich, wenn man sie aus einer gemeinsamen Perspektive betrachtet, die verdeutlicht, dass sich in all diesen sprachlichen Merkmalen das universale Diskursverfahren einer ‚aggregativen Rezeptionssteuerung‘ (cf. Kapitel 5.3) manifestiert. Das bedeutet, mittels dieser Ausdrücke und Strukturen gelingt Sprechern eine Beeinflussung der Dekodierung und damit der möglichen Folgehandlungen ihrer Gesprächspartner, an die sie ihre Äußerungen richten.
3. Benutzte Korpora, Transkriptionen, Abkürzungen und weitere Hinweise zur Erleichterung der Lektüre des Buches
Der weitaus überwiegende Teil der Transkriptionen, die in der vorliegenden Studie als Beispiele herangezogen werden, wurde mir freundlicherweise von Mitarbeitern des CLUL kostenfrei zur Verfügung gestellt1. Sie entstammen dem ‚C-ORAL-ROM-Korpus‘ (Integrated Reference Corpora for Spoken Romance) des CLUL. Bei den Beispielen handelt es sich um 152 Gespräche mit rund 300000 Wörtern, die in den Jahren 1970 und 1998, aber zum überwiegenden Teil im Jahr 2001 aufgenommen wurden. Die spontan geführten Gespräche finden zwischen zwei oder mehr Gewährspersonen statt, die sich über verschiedene alltägliche Themen unterhalten. Das abschließende Korpus wurde im Jahre 2001 von einer Arbeitsgruppe der CLUL bearbeitet und transkribiert2. Nähere Informationen zum Korpus und seiner Entstehung sowie der für die Transkription verwendeten Transkriptionszeichen findet man in den online einsehbaren Aufsätzen von Cresti et al. (2002) und Mendes et al. (2003) 3. Die in der vorliegenden Untersuchung benutzten Beispiele stützen sich unter Ausrichtung am Untersuchungsziel dieser Arbeit ausschließlich auf die literarischen Transkriptionen des Korpus, die im ‚txt-Format‘ vorliegen. Beispiele aus diesem Korpus werden in folgender Form gekennzeichnet: (1) C-ORAL-ROM ‚pnatco02.txt‘