Schrift fixiert Sprache nicht nur im visuellen Sinn, sondern auch, indem sie sie stabilisiert. Mit anderen Worten, Schrift ist das Mittel der Sprachstandardisierungen (Coulmas 1985, 98).
Die Ablösung der oralen und die Herausbildung der literalen Kultur bedeuten, dass der Mensch nunmehr nicht nur Sprechhandlungen vollzieht, sondern auch Sprachwerke schafft [Heraushebung durch den Autor des Zitats], und dass diese Sprachwerke über grammatische (und sonstige sprachliche) Merkmale verfügen, über die Sprechhandlungen nicht verfügen (und umgekehrt). (Ágel 1999, 211)
Diese von allen Sprachgemeinschaften geteilte Hochachtung der Schrift führte dann allerdings in der Folgezeit zu einem wachsenden Verlust der Wertschätzung der gesprochenen Sprache. Diese ist durch eine fast vollkommende Vernachlässigung bzw. durch eine Form wissenschaftlicher Thematisierung gekennzeichnet, die auf verzerrenden und fehlerhaften theoretischen Voraussetzungen beruht. Zu diesen zählen (a) eine Beschreibung von Merkmalen der gesprochenen Sprache im latenten, wenn auch oft unbewussten Vergleich mit der Grammatik der geschriebenen Standardsprache, die sozusagen den geltenden Maßstab für alle Formen sprachlicher Verständigung darstellt, (b) eine einseitige Fokussierung auf ihre lautliche Realisierung, (c) die Ausklammerung der Eigenständigkeit von Regularitäten des Sprachgebrauchs5 auf der Ebene der Morphosyntax sowie (d) die Nichtbeachtung bzw. Unterbewertung von sprachlichen Ausdrücken und Strukturen, deren Bedeutung für das Funktionieren mündlicher Kommunikation sich aus sprachpragmatischer Perspektive eröffnet.
Obwohl sich auch in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Hinweise in der portugiesischen Sekundärliteratur finden, die den oben genannten Tendenzen widersprechen und dem lebendigen, gesprochenen Wort ihre Aufmerksamkeit zuwenden6, überwog lange Zeit die Rückwendung auf die Vergangenheit und eine Dominanz präskriptiver Formen der Sprachbeschreibung7. Zusammen mit der einseitigen Wertschätzung der Schriftkultur ergab sich daraus eine Haltung, die in der angelsächsischen und germanistischen Wissenschaftsliteratur als „Skriptizismus“8 bezeichnet wird. Aus der Sicht der brasilianischen Linguistin Quadros Leite stammt dieses Vorurteil, das in der Annahme einer minderwertigen Mündlichkeit gegenüber dem überlegenen schriftlichen Ausdruck ausgeht, aus der Epoche der Renaissance, als sich eine Grammatikalisierung der Sprachen vollzog: „A partir desde momento a língua é entendida como uma entidade monolítica, cuja única forma é aquela descrita nos manuais de gramática tradicional e nos dicionários; as divergências são erros crassos“ (Quadros Leite 2000, 135). Auf ironische Weise äußert sich der germanistische Sprachwissenschaftler Ludger Hoffmann (1998, 3) darüber, wie sich die Haltung des ‚Skriptizismus‘ in den Köpfen und dem Denken seiner Verfechter widerspiegelt:
Kein Wunder, dass Lehrstuhl-Grammatiker die Mündlichkeit für chaotisch und irregulär halten und als bloße ‚Performanz‘ aus dem Gegenstandsbereich verbannen. Sie befassen sich lieber mit dem in den Köpfen ‚internalisierten‘ Sprachsystem, d.h. mit dem, was sie selbst über Grammatik wissen.
Bei allem Verständnis für diese Kritik scheint es allerdings nicht angebracht, beide Anwendungsvarianten verbaler Verständigung gegeneinander auszuspielen. Angemessener lässt sich das Verhältnis zwischen Sprechen und Schrift als eins der gegenseitigen Abhängigkeit und Beeinflussung bestimmen, das wie der deutsche Sprachwissenschaftler Wolfgang Raible (1994, 2) anmerkt, das Merkmal einer dialektischen Beziehung aufweist: „There´s no slave or servant without a master, no leisure time without work, no nature without culture; in the same way literacy cannot be conceived of without orality, and orality not without literacy“.
Doch war es nicht ausschließlich die Haltung des ‚Skriptizismus‘ – und diese Aussage gilt sowohl für die brasilianisch-portugiesische als auch die germanistische Gesprochene-Sprache-Forschung –, die lange Zeit eine angemessene wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der gesprochenen Sprache verhinderte oder zumindest verzögerte. So fehlten bis zur Mitte der 60er Jahre die technischen Voraussetzungen (tragbare Tonbandgeräte), die es ermöglicht hätten, gesprochene Sprache in spontanen Kommunikationssituationen aufzunehmen und für weitere Analysen zu archivieren. Mindestens genauso schwer wiegt aber das methodologische Dilemma, das der Erforschung gesprochener Sprache unausweichlich anhaftet. So ist man zur Erfassung des flüchtigen gesprochenen Wortes zunächst einmal auf die Schrift in Formen von Transkriptionen angewiesen, um den zu untersuchenden Gegenstand überhaupt festhalten, beschreiben und erzielte Erkenntnisse weiterverbreiten zu können. Darüber hinaus stellt jedes Transskript einen Kompromiss dar, weil es nicht in der Lage ist, alle Faktoren angemessen zu beschreiben, die bei einem gesprochenen Alltagsdialog von Bedeutung sind9. Dazu zählt die Gesamtheit der von den Sprechteilnehmern hervorgebrachten Lautsequenzen, zu denen auch solche gehören, die nicht Teil des eigentlichen verbalen Codes sind. Hinzu kommen die ständig wechselnde Mimik, die Gestik und die Gebärden der Gesprächsteilnehmer sowie alle nichtsprachlichen Handlungen, die den verbalen Teil der Kommunikation begleiten. Auch die räumliche Distanz, die Gesprächsteilnehmer zwischen sich einnehmen (Proxemik), und die Prosodie (Dynamik, Wort- und Satzakzente, Rhythmus, Satzmelodie, Stimmfärbung, Länge der Aussprache von Lauten und Pausen) tragen mit zur Informationsübermittlung in einem Alltagsdialog bei.
Um das Ziel der vorliegenden Studie anschaulicher und verständlicher zu machen und um bereits im Vorfeld der späteren, ins Detail gehenden Erläuterungen das Interesse und die Neugier der Leser zu wecken, möchte ich einleitend zwei kurze Textausschnitte vorstellen. Der erste Text von José Saramago, bei dem es sich um einen Ausschnitt aus den „Folhas Políticas“ (Saramago 1999, 178)10 handelt, steht dabei stellvertretend für einen prototypischen Text der ‚Distanzsprache‘11. Der zweite Ausschnitt hingegen, der einen prototypischen Text der ‚Nähesprache‘ repräsentiert, stammt aus dem ‚C-ORAL-ROM-Korpus‘ des ‚Centro Linguístico da Universidade de Lisboa‘ (=CLUL)‘12.
‚Text 1‘ – Beispiel für einen prototypischen Text des ‚Distanzsprechens‘.
Poucas vezes como neste caso terei sentido tão fortemente a necessidade de me manter num certo ângulo de observação que me é peculiar, o duma aguda e quase obsessiva consciência da absoluta relatividade de todas as coisas – com perdão da incompatibilidade lógica entre relativo e absoluto, que, sendo indesculpável em qualquer texto que se apresentasse com alguma pretensão científica, espera desta vez uma absolvição completa, por ser, obviamente, nesta circunstância, um abuso mais da liberdade de expressão. Literária, claro está. Propor, ou discernir, ou inventariar uma visão (Invenção) europeia da América, sempre terá de tomar em conta os fatores de tempo e de lugar, sob pena de nos vermos precipitados pela imperiosa realidade naquele profundo abismo em que costumam naufragar as inteligências desprevenidas, ingênuas ou otimistas – o tópico. Em primeiro lugar, se o passado considerarmos, desde que Colombo, em 1492, tocou terra americana, julgando ter chegado à índia, e que Álvares Cabral, em 1500, por casualidade ou de caso pensado, encontrou o Brasil – foram diversas mas nunca contraditórias, as imagens que a Europa recebeu de um mundo novo, em muitos aspectos incompreensível, mas, como a história veio a demonstrar, bastante dúctil e moldável, ora pela violência das armas ora pela persuasão religiosa, aos interesses materiais e ideológicos dos que, tendo começado por ser descobridores, imediatamente passaram a exploradores.
Bereits bei einer ersten und oberflächlichen Durchsicht des Textes von Saramago werden folgende Charakteristika deutlich: (a) Es handelt sich um einen aus 221 Wörtern und nur vier Sätzen bestehenden Text. Das einzige kurze Syntagma, das nur aus den drei Wörtern Literária, claro está besteht, ist kein eigenständiger Satz, sondern ein syntaktisch und logisch vom Vorsatz abhängiger ‚Zusatz‘ (Apposition). Nehmen wir ihn heraus, besteht der gesamte Ausschnitt nur aus drei Sätzen mit durchschnittlich 72,7 Wörtern. (b) Die drei verbliebenen Sätze bilden ein dichtes Geflecht ineinander verwobener syntaktischer Strukturen aus Hypotaxen und Parataxen. Besonders komplex sind die Satzgefüge