Essen, im Januar 2018 Daniel Reimann
Das Interesse an der gesprochenen Sprache und ihrer Erforschung begann zur Zeit meiner akademischen Ausbildung als Germanist mit dem Schwerpunkt Sprachwissenschaft, die ich in Deutschland an der Universität Bonn in den Jahren von 1973 bis 1983 erfahren habe. Dort nahm ich bereits in den späten 70er Jahren an einem Projekt zur Erforschung der gesprochenen deutschen Sprache teil1. Sowohl die schriftliche Arbeit zu meinem Ersten Staatsexamen von 1980 als auch meine Dissertation von 1983 hatten die gesprochene Sprache und den Gebrauch der Vergangenheitstempora ‚Perfekt und Imperfekt‘ zum Thema. Dann begann ich 1984 meine Arbeit als DAAD-Lektor an der Germanistischen Abteilung der ‚Faculdade de Letras da Universidade de Lisboa‘ (FLUL). In diesen Jahren hat mich mein Interesse an der ‚Gesprochenen Sprache Forschung‘ (GSF) immer begleitet und mich auch in den fast zwei Jahrzehnten meiner Tätigkeit als Lektor – die ersten fünf Jahre als DAAD-Lektor – immer wieder zu kleineren Arbeiten in diesem Forschungsbereich veranlasst, obwohl ich in Lissabon meine Zeit und Energie überwiegend dem Unterricht der deutschen Sprache widmete.
Das Interesse an vergleichenden Arbeiten ‚Deutsch-Portugiesisch‘ erwachte erst relativ spät Anfang der 2000er Jahre, zu einer Zeit, als sich mit der Anerkennung meines deutschen Doktorexamens mein akademischer Status in Portugal änderte. Damit ergab sich auch die Möglichkeit, erneut mehr in meine Forschungstätigkeit zu investieren. Die Ausgangslage eines Dozenten zwischen zwei unterschiedlichen Sprachkulturen und Wissenschaftstraditionen führten dann auch wie selbstverständlich zu einer Reihe von Studien im kontrastiven Bereich ‚Deutsch-Portugiesisch‘2. Meiner persönlichen Überzeugung zufolge handelt es sich bei diesem Schritt in Richtung vergleichende Sprachforschungen nahezu um eine Pflicht für Akademiker, die das Privileg genießen, parallel an zwei verschiedenen Sprach- und Wissenskulturen teilhaben zu dürfen.
In derselben Phase meiner beruflichen Laufbahn ergab es sich durch persönliche und eher zufällige Kontakte, dass ich das Modell des Nähe- und Distanzsprechens von Ágel / Hennig kennenlernte, das sich wiederum an dem der Romanisten Koch / Oesterreicher ausrichtet und sich m.E. aktuell als herausragendes ‚Werkzeug‘ zur systematischen Beschreibung gesprochener Sprache gerade und besonders auch für kontrastive Studien erweist3. Dieses Modell und seine Vorstellungen sollten von diesem Zeitpunkt an einen Großteil meiner weiteren Arbeit im Bereich der Sprachwissenschaft und auch im Bereich kontrastiver Studien orientieren. Auch für die vorliegende Arbeit bildet es die methodisch-konzeptuelle Basis.
Bei der Beschäftigung mit der GSF des Portugiesischen wurde relativ schnell deutlich, dass es unterschiedliche geopolitische Ausgangssituationen und Forschungstraditionen sind, die einen entscheidenden Einfluss auf die GSF ausüben. Die Bundesrepublik der 70er Jahre war auch im akademischen Bereich wesentlich geprägt durch die Nachwehen der Aufbruchsstimmung der 68er Generation und die sozialliberale Koalition zwischen SPD und FDP der frühen 70er Jahre, die sich an Ideen wie ‚Mitbestimmung‘, ‚Bildungsreform‘ und ‚sozialer Gerechtigkeit‘ ausrichtete. Die Auswirkungen einer entsprechenden Bildungs- und Hochschulpolitik sowie die zur Verfügung gestellten finanziellen Mittel rückten auch in der Germanistik und Linguistik – von nun an gebrauchte man statt des antiquierten Begriffs der ‚Sprachwissenschaft‘ bevorzugt den der ‚Linguistik‘ – neue Forschungsschwerpunkte und Projekte in den Vordergrund von Lehre und Forschung, zu denen neben der Soziolinguistik auch die Dialektologie sowie die gesprochene Sprache gehörten. Darum kann es nicht verwundern, dass die GSF in den folgenden 80er Jahren und bis heute enorme Fortschritte gemacht hat und sozusagen als ein Aushängeschild germanistischer Forschungen angesehen werden darf. Mit dem ‚Institut für Deutsche Sprache‘ (IDS) in Mannheim und seinen in den letzten Jahren aufgebauten Korpora zur gesprochenen Sprache4 besteht zudem eine ideale Ausgangsposition für Korpus basierte Forschungen auf dem Gebiet der germanistischen GSF.
Bedingt durch die unterschiedlichen politischen und soziogeographischen Rahmenbedingungen – die portugiesische Nelkenrevolution von 1974 lag erst gerade einmal zehn Jahre zurück – befand sich die Erforschung des gesprochenen Portugiesisch Mitte der 80er Jahre in einer gänzlich anderen Situation, die sich kurz folgendermaßen beschreiben lässt. Linguistische Ansätze zur Soziolinguistik, die mittel- oder unmittelbar auch die gesprochenen Sprache (GS) in den Aufmerksamkeitsfokus gerückt hätten, waren in Teilen der älteren aber immer noch einflussreichen Generation portugiesischer Philologen auch noch Jahre nach der Revolution verpönt, wie eine Formulierung von Scott-Rosin (1984, 259) verdeutlicht:
Zudem verstellte lange Zeit die Vorstellung von einer diastratisch relativ homogenen portugiesischen Sprache, die vor 1974 aus ideologischen Gründen gefördert wurde, den Blick auf die tatsächlichen sprachlichen Varianten und verhinderte damit die notwendige Diskussion um die Sprachnorm.
Einer Öffnung für eine Beschäftigung mit dem aktuellen mündlichen Sprachgebrauch schien auch das Selbstverständnis vieler portugiesischer Philologen skeptisch gegenüberzustehen, wie bereits Boléo 1954 beklagte (Boléo 1974, 269): „O estudo da linguagem viva, actual, tem sido impedido, nalguns países, designadamente Portugal, por um lamentável preconceito: o de que o filólogo se deve debruçar principalmente sobre assuntos antigos“.
Trotzdem begann 1970 relativ früh die Arbeit an einem ersten Korpus des gesprochenen Portugiesisch, deren Ergebnisse vom ‚Centro de Linguística da Universidade de Lisboa‘ (CLUL) unter dem Titel ‚Português Fundamental. Métodos e Documentos‘ 1987 publiziert wurden. Die Erstellung weiterer Korpora und Studien auch zur gesprochenen Sprache folgten in Portugal aber besonders auch in Brasilien (siehe auch Kapitel 2). Dass es trotzdem immer noch an Erkenntnissen zum gesprochenen Portugiesisch mangelt und bestimmte Aspekte dieses Forschungsbereichs unberücksichtigt blieben bzw. unter einem methodisch-konzeptionellen Ansatz erfolgen, der wenig zur ihrer Erhellung beiträgt, hat m.E. verschiedene Gründe. Zu ihnen zählen, dass die entsprechenden Korpora vorrangig Studien zur Phonetik und Geolexikologie dienen. Dieser von der portugiesischen Forschung eingeschlagene Weg wird allerdings vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung und geographischen Situation Portugals mit seiner Vielzahl von diatropischen Varianten außerhalb des Kontinentalportugiesischen durchaus verständlich.
Den Hauptgrund für das Desiderat aber sehe ich in der Vergangenheit einer Forschungstradition, die sich in den letzten Jahrzenten recht einseitig formal-strukturalistischen Konzepten der Sprachbeschreibung – unter den gegebenen politischen Umständen jener Zeit aus Gründen ihrer ideologischen Unverfänglichkeit vielleicht auch verständlich5 – verschrieben hatte, die in angloamerikanischen Vorbildern ihre historischen Wurzeln haben, wobei ein Blick in die bis dato herausgegebenen Referenzgrammatiken zur portugiesischen Sprache 6 genügt, um diesen Eindruck zu bestätigen. Andere Perspektiven auf ‚Sprache‘ hingegen werden vernachlässigt. Dazu gehört die mit der Pragmatik verbundene Sicht, die eine Einbindung von Sprechen in reale Situationen und die hieraus erwachsenen sprachlichen Beschränkungen und Möglichkeiten zum Ziel ihrer Untersuchungen machen würde. Genauso bleibt die Beschreibung derjenigen sprachlichen Mittel weitgehend unbeachtet, die der Herstellung und der Regelung von sozialen Beziehungen zwischen den Gesprächspartnern und ihren Interessen dienen, bzw. sie findet keinen Einlass in die entsprechenden Grammatiken.
Trotz dieser Umstande bin ich mir der Außergewöhnlichkeit und vielleicht auch des Risikos bewusst, ein methodisches Konzept samt seiner Grundbegriffe und Terminologie, das seinen Ursprung in der germanistischen Sprachwissenschaft hat und bisher vornehmlich auf die Erscheinungen der deutschen Sprache angewandt wurde, auf das Portugiesische zu übertragen. Die oben beschriebenen Desiderate, die Universalität des von mir benutzten Erklärungsmodells sowie die Überzeugung, dass Forschungstätigkeit eine ihrer wichtigsten Aufgaben darin sehen sollte, die Grenzen zwischen unterschiedlichen Ländern, Sprachen und Wissenschaftstraditionen zu überwinden, verleihen mir jedoch die Überzeugung richtig zu handeln. Hinzu kommt, dass ich meine Arbeit in erster Linie als Vorschlag verstehe, die bereits gewonnenen Erkenntnisse, die inzwischen durch portugiesisch-brasilianische Forschungen zur gesprochenen Sprache zusammengekommen sind, auf der Basis eines zusätzlichen Konzepts systematisch zu ordnen und ihnen eine zusätzliche Ausgangsposition für zukünftige Arbeit zur Seite zu stellen. Damit verbinde ich die Hoffnung, dass es auf diesem