Gemäß Anaïs Bazins Definition ist dem ballet de cour nicht der Charakter eines dramatischen Werkes zuzuschreiben; häufig ist er lediglich ein Spektakel, das mit den diversen Künsten zu improvisieren scheint.
Das Hofballett wird mit dem Ballet Comique de la Reine (1581) von Balthasar de Beaujoyeulx im 16. Jahrhundert etabliert. Dieses Ballett dient der monarchischen Propaganda, denn der darin evozierte Aktualitätsbezug zur politischen Lage ist evident: Die Götter überwinden die Zauberin Circe ebenso glorios wie der französische König die Religionskriege. Die im 17. Jahrhundert verstärkte Weiterentwicklung des französischen Tanzspiels ist auf das politische Ereignis der Fronde (1648–1653) zurückzuführen. Inmitten der Regierungskrise repräsentiert der tanzende Dauphin – zum Beispiel im Ballet de la nuit (1653) als mächtiger Apollo – Stärke, Ordnung und Stabilität des monarchischen Systems, das den politischen Unruhen Einhalt gebieten sollte.3 Er gibt den Tanzrhythmus vor und weiß großmächtige Höflinge im Gesellschaftstanz wie auch auf der Bühne zu bändigen. Besonders begnadete Tänzer der Oberschicht haben die Ehre, aktiv auf der Bühne mitzuwirken. Die adeligen Tänzer sind der Inbegriff von Disziplin und dienen mit ihren Auftritten als Paradebeispiel einer vollendeten Systemanpassung und -unterwerfung: „Die Domestizierung und Unterwerfung des gesamten französischen Adels wird im ‚grand bal du roi‘ durch das Zeremoniell stets von neuem sichtbar gemacht und bestätigt.“4 In dieser Zeit setzt sich die Politisierung des Balletts in Frankreich zunehmend durch,5 symbolisiert es doch kulturpolitische Ansichten und legitimiert diese zugleich in ihrer Repräsentation.6 Die machtverklärende Funktion des ballet de cour ist in den comédies-ballets erhalten geblieben, sodass das Erbe der politischen Funktion im neuen Genre fortleben kann.
Zur Ausbildung einer edlen Bewegungsästhetik wird Ludwig XIV. bereits im Kindesalter in seiner, wie sich später zeigen wird, großen Passion für den klassischen Tanz gefördert. Es handelt sich um eine Leidenschaft machtverklärenden Ursprungs, die durch die Gründung der wissenschaftlichen Académie royale de danse im ersten Jahr seiner Selbstregierung institutionell ihren Ausdruck findet. Damit liegt der kulturellen Tanzpraxis erstmals eine wissenschaftlich abgestützte Organisation zugrunde. Die staatliche Verankerung der Tanzeinrichtung fordert die Professionalisierung des Tanztheaters und verstärkt die gesellschaftliche Bedeutung des Tanzes. Das Bestreben und die Entwicklung einer glorreichen Tanzkultur, „die stufenweise Wandlung des Tanzes von höfischer Unterhaltung und Vergnügung zu theatralischer Darstellung“7 unter Ludwig XIV., erklären die tiefe Verankerung des Balletts in der französischen Kulturgeschichte. Der Tanzlehrer Pierre Rameau hebt zu Beginn des 18. Jahrhunderts das Alleinstellungsmerkmal des schönen Tanzes der Franzosen im Vergleich zu den übrigen Europäern hervor:
Nous pouvons dire à la gloire de notre Nation, qu’elle a le veritable goût de la belle Danse. Presque tous les Etrangers loin d’en disconvenir, viennent depuis près d’un siécle admirer nos Danses, se former dans nos Spectacles & dans nos Ecoles; même il n’y a point de Cour dans l’Europe qui n’ait un Maître à danser de notre Nation.8
Im Zuge der Entwicklung des Tanztheaters ändert sich der Austragungsort der Ballette, die Bühne. Ab 1641 werden sie auf einer erhöhten Bühne aufgeführt, womit ein Perspektivenwechsel der Zuschauer einhergeht.9 Diese neue Bühnenkonstruktion sorgt für eine frontal und fluchtpunktartig auf den Herrscher ausgerichtete Choreografie, die den Tanz aristokratischer und pompöser wirken lässt.10 Dem Ballett wird auf diese Weise die gleiche Bühne wie dem Theater zuteil, eine Veränderung, die eine Kombination der beiden Gattungen im Sinne der Ballettkomödie favorisiert.
Da für die beiden Dynastien – Valois und Bourbonen – höfische Feste ein Kernpunkt ihrer politischen Strategie sind, wird die Beherrschung des Tanzes zu einem wichtigen Bestandteil des neuen Adelsideals. Der Tanz steigt zu einem signifikanten Element im System der repräsentativen Öffentlichkeit des Adels und der Selbstrepräsentation der Monarchie auf. Vermittels der Festchoreografie werden die soziale Rangordnung der Höflinge repräsentiert und die aristokratischen Zuschauer ihrerseits in das ideologische System integriert.11 Zudem wird die Tanzfertigkeit in der Ständegesellschaft als Mittel zur Distinktion gegenüber der avancierenden Bürgerschicht eingesetzt. Tanz zählt nach Nicolas Farets L’Honnête homme ou l’Art de plaire à la cour (1630) nebst anderen Bildungsidealen in allen Erziehungslehren zu den „exercices de galanterie“ der Höflinge, ebenso wie die musikalische Betätigung.12 Dergestalt stiftet das Ballett eine soziale und kulturelle Identität im 17. Jahrhundert.
Ferner lassen tanztheoretische Schriften13 aus der Zeit erkennen, dass der Tanz von gesellschaftlichem Vorteil ist, wenn die Tänzer die Harmonie und die Proportionen des Universums nachempfinden und ein Gefühl für Maß und Anstand entwickeln, wovon das soziale Gefüge profitiert.14 Die Ballettertüchtigung als Instrument zur Wesensverfeinerung begünstigt die Zurschaustellung der honnêtes gens am Hof in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Die Art der Selbstpräsentation, der Bewegung, der Gestik und Körperhaltung der honnêtes gens ist nur zu deuten, wenn man versteht, dass ihre Körper durch tägliche Tanzübungen geformt werden. Die daraus resultierende Eleganz trägt zu einem Prestigefetisch der verlorenen politischen Macht bei. Ziel dieser Tanzübungen ist es, die menschliche Natur zur vollkommenen Entfaltung zu bringen. Im damaligen Verständnis ist der Körper eine mechanisch-physikalische Substanz, die es zu modellieren gilt. Im Sinne dieser auf Descartes beruhenden rationalen Funktionalisierung des Körpers muss alles beseitigt werden, was sich dieser entgegensetzt.15 Für den Tanz bedeutet dies, dass Ordnung in die kleinsten motorischen Einheiten und die immer komplizierter werdenden Tanzschritte gebracht werden muss. Die Tanzkunst unterweist die Tanzschüler, eine artifizielle Bewegung so auszuführen, dass sie natürlich erscheint. Die Bewegungsästhetik des 17. Jahrhunderts versteht sich als eine natürliche, als eine der menschlichen Natur angemessene;16 sie wirkt im heutigen somästhetischen Empfinden beinahe paradox. Aufgrund dieses Ausdrucksempfindens ist es für die physische Präsenz in der Gesellschaft von äußerster Wichtigkeit, dass man nicht den Eindruck einer affectation entstehen lässt,17 einer verkrampften Geziertheit, sondern den einer natürlichen Perfektion des Körpers, die auf dem absolutistischen Ordnungsprinzip fußt. Das Ballett ist für seine strenge Formeinhaltung bekannt und spiegelt die strengen gesellschaftlichen Konventionen der Zeit in seinem künstlerischen Ausdruck wider. Es ist das ideale Medium von Herrschafts- und Selbstdarstellung, denn der Tänzer verinnerlicht die Gesellschaftsordnung und kehrt diese aus seinem individuellen Inneren als Selbstdarstellung erneut nach außen.18
Es ist an dieser Stelle festzuhalten, dass der ballet de cour im Komplex von künstlerischem Ausdruck und soziopolitischer Absicht die Funktion erfüllt, den Hof und die höfische Kultur in der Zeit Ludwigs XIV. zu definieren und dem europäischen Ausland Hochschätzung abzunötigen.19 Als bevorzugtes Genre dominiert der ballet de cour bis ins Jahr 1661 die Unterhaltung am Hof. Mit dem Antritt der Alleinregierung sollte sich zusätzlich die comédie-ballet etablieren und mit dem französischen Hofballett koexistieren.20 Der ballet de cour wirkt hinsichtlich seiner soziokulturellen Relevanz auf das Schaffen Molières und damit auf die Ballettkomödien ein. Dieser Einfluss zeichnet sich außerdem durch eine strukturelle Prägung ab, die sich in der hybriden Struktur der Ballettkomödie zu erkennen gibt. Molière gelingt es, im Gegensatz zu den – in Anbetracht mangelnder Synchronisierung von Ballett und Musik – bis dato oft inhaltslosen, unstrukturierten Aufführungen, eine ästhetisch