In La pratique du théâtre widmet sich d’Aubignac in seinem dritten Buch im vierten Kapitel Des Chœurs dem strukturellen Element des Chors im antiken Theater. Hinsichtlich der Gattungsspezifik interessiert hierbei weniger dessen Funktion, sondern vielmehr seine inhaltliche wie auch strukturelle Verbundenheit mit der Komödie und deren Einschätzung durch den Theoretiker, um daraus eine hypothetische poetologische Legitimation für Molières neue Gattung ableiten zu können. Am Beispiel des antiken Komödiendichters Aristophanes lobt der Abbé die sujetkonforme Integration des Chors in die Komödienhandlung, da sie das Prinzip der vraisemblance aufs Höchste erfülle:
S’il [le chœur, Anm. S.W.] le faillait inventer, ils [les principaux acteurs, Anm. S.W.] le cherchaient toujours conforme à la nature du Sujet, et selon que plus vraisemblablement qu’il pouvait être. Ce qu’Aristophane a très ingénieusement observé dans la Comédie, ayant fait un Chœur de Grenouilles qui chantent, tandis que Bacchus passe le Styx dans la barque de Caron; un autre de Frelons, ou Mouches guêpes dans la maison de Philocleon, dont son fils le veut empêcher de sortir: Imaginations certes très ridicules, mais Comiques, et où la vraisemblance est bien gardée; il invente fort bien pour faire rire, et ne contrevient point aux maximes de son Art.11
Zugleich verweist der Abbé auf die aus den musikalischen Interventionen resultierende komische Wirkung und definiert somit indirekt die besondere Komikästhetik, die aus der Verbindung von musikalischen und sprachlichen Elementen hervorgeht und für die Interpretation von Molières Intermedialitätskonzept entscheidend ist. D’Aubignac scheint keinen Anstoß an der Parallelität von Chornebenhandlung und Komödienhaupthandlung zu nehmen, solange das Wahrscheinlichkeitsprinzip gewahrt bleibt. Er geht außerdem davon aus, dass es möglich sei, den Chor – „le plus superbe ornement du Théâtre“ –12 im Theater der Klassik wiederzubeleben, merkt aber an:
Il serait nécessaire d’avoir des Musiciens et des Danseurs capables d’exécuter les inventions des Poètes, à la façon de ses Danses parlantes et ingénieuses des Anciens; ce que j’estime presque impossible à nos Français, et très difficile aux Italiens.13
Schon vier Jahre nach der Publikation seiner Theaterfibel zeigt sich, dass d’Aubignac mit seiner Einschätzung daneben lag, weil das französisch-italienische Duo Molière und Lully diese alte Tradition im französischen Theater wieder etabliert, sie zu einer kulturspezifischen Dramenästhetik umformt und perfektioniert. Es wäre zu spekulativ, sich über d’Aubignacs Ansichten zur Ballettkomödie zu äußern, aber bezüglich der poetologisch für die Klassik verbindlichen Einheitsregel bleibt festzuhalten, dass Molière diese sowohl strukturell als auch im Sinne der vraisemblance weitestgehend erfüllt. Er lässt sich aber nicht zum Knecht der Regeln machen und entscheidet sich in seinen Ballettkomödien zugunsten der innovatio, die für das Publikum überraschende variatio.
Auch in Boileaus als Versepistel verfasster Poetik Art poétique ist ein zur Norm gewordener Hinweis auf die Komödienstruktur zu finden: „Les scènes toûjours l’une à l’autre liées [pour avoir, Anm. S.W.] son nœud bien formé.“14 Diese verpflichtende Regel, eingeleitet durch ein obligatorisches „il faut“15, lässt sich auf das neue Genre applizieren, denn sie kongruiert mit derselben Anforderung, die Molière in Anbetracht der dramatischen Verflechtung von Zwischenspiel und Komödie an sich selbst stellt; dahinter steckt das Prinzip der trois unités der doctrine classique. Trotz dieser die Dramenstruktur betreffenden Leitprinzipienkonkordanz ist es erstaunlich, dass Boileau Molière nicht nur aufgrund seiner menschlichen, sondern auch aufgrund seiner ästhetischen Qualitäten die freundschaftliche Treue hält.16 Er konfrontiert seinen Freund zwar öfters mit dem Vorwurf, zu sehr „ami du peuple“17 zu sein, also den demotischen Elementen der Farce und der commedia dell’arte zu große Spielräume in seinen Theaterstücken einzuräumen, mithin der ästhetischen wie auch moralischen bienséance nicht gänzlich nachzukommen. Gleichzeitig scheut Boileau nicht davor zurück, Molières Genie ausgiebig zu würdigen. So bekundet er in seinen Versen bewunderungsvoll:
Rare et fameux Esprit, dont la fertile veine
Ignore en écrivant le travail et la peine;
Pour qui tient Apollon tous ses trésors ouverts,
Et qui sçais à quel coin se marquent les bons vers.
Dans les combats d’esprit sçavant Maistre d’escrime,
Enseigne-moi, Molière, où tu trouves la rime.
On diroit, quand tu veux, qu’elle te vient chercher.18
Des Weiteren steht in Boileaus erstem Gesang das Stilprinzip der varietas an exponierter Stelle. Schließlich sei dies geeignet, die Kunst durch eine glückliche Mischung an Stilen zu bereichern, um somit dem literaturästhetischen ennui entgegenzuwirken:
Voulez-vous du public mériter les amours?
Sans cesse en écrivant variez vos discours.
Un stile trop égal et toûjours uniforme,
En vain brille à nos yeux, il faut qu’il nous endorme.19
Diesen Ratschlag richtet er an die Dichter seiner Zeit. Molière scheint die Publikumsliebe verdient zu haben, treffen doch der gemischte Charakter seines nouveau spectacle und die diesen charakterisierende Lebhaftigkeit den goût mondain der Zuschauer in einer durch die zeitgenössischen Uniformitätsbemühungen der Künstler immer eintöniger werdenden Kunstlandschaft. Zugleich zeigt sich hierbei implizit das ästhetische Prinzip der aemulatio, welches les modernes an Molière wertschätzen. Als Hintergrund und Quintessenz dieser poetologischen Emanzipation der Modernen kann folgendes Zitat Saint-Evremonds gelten: „Il faut convenir que la Poetique d’Aristote est un excellent ouvrage: cependant il n’y a rien d’assez parfait pour régler toutes les Nations & tous les siécles.“20
In diesem Zusammenhang ist auf das ebenfalls 1674 erschienene Werk Le théâtre français von Samuel Chappuzeau zu verweisen. Jean-Baptiste Poquelin erscheint darin kurz nach seinem Tod als Genie der Komödie, als ein Autor, dessen Werke innovative Maßstäbe setzen und der auf seinem Gebiet die sich bereits andeutende Querelle des Anciens et des Modernes gegenstandslos macht: „[L]’esthétique de Molière est révolutionnaire, à notre sens, pour avoir, la première, pleinement satisfait à l’esprit de la doctrine classique du genre comique, par delà ses règles et ses dogmes mêmes.“21 Molières Innovation ist zu einem Großteil seinen Ballettkomödien zuzuschreiben, denn dort scheint er die neoaristotelischen Regeln zu überwinden.
Die hier nur in knappen Auszügen dargestellten, aber dennoch aussagekräftigen Regeln und Prinzipien der beiden Regelpoetiken tragen indirekt Elemente zur Gattungspoetik der Ballettkomödie bei und heben einstimmig ihre innovativen Aspekte hervor. Demnach ist die Gattungsfusion poetologisch legitimiert, da Molière die Künstekombination, die Sujetkonformität und das Wahrscheinlichkeitsprinzip seiner Intermedien im Sinne d’Aubignacs weitgehend respektiert und auch Boileaus Forderungen nach Dramenstrukturkohärenz und variatio nachkommt; das Kohärenzprinzip impliziert die Einheitsregel der Werke. Bezüglich der von Boileau bisweilen angeprangerten bienséance-Vorstellungen Molières ist zu erwähnen, dass sich diese nicht im Sinne des Gelehrten auf die antiken, sondern auf die zeitgenössischen Normen beziehen, die vom goût mondain geprägt sind, und von der antikisierten Ansicht Boileaus divergieren. Molière lässt sich nicht in seiner künstlerischen Freiheit beschneiden und triumphiert mit seinen