Theaitetos: Wieso?
Fremder: Wie etwa geht, läuft, schläft, und so auch die andern Zeitwörter, welche Handlungen andeuten, und wenn man sie auch alle hintereinander hersagte, brächte man doch keine Rede zustande.
Theaitetos: Wie sollte man auch!
Fremder: Und ebenso wiederum, wenn gesagt wird, Löwe, Hirsch, Pferd und mit was für Benennungen sonst was Handlungen verrichtet, pflegt benannt zu werden, auch aus der Folge kann sich nie eine Rede bilden. Denn weder auf diese noch auf jene Weise kann das Ausgesprochene weder eine Handlung noch eine Nichthandlung noch ein Wesen eines Seienden oder Nichtseienden darstellen, bis jemand mit den Hauptwörtern die Zeitwörter vermischt. Dann aber fügen sie sich, und gleich ihre erste Verknüpfung wird eine Rede oder ein Satz, wohl der erste und kleinste von allen. (Soph. 262a-c)
So erfährt der λόγος als Satz bei Platon eine Definition. Hinzu kommen die Bestimmungen, dass der λόγος sich auf etwas Seiendes beziehen muss und Wahrheit enthält, die durch die Verbindung der einzelnen Ideen garantiert sein muss.42 So enthält der Satz „Θεαίτητος (…) πέτεται“43 keine Wahrheit, weil die Idee des Fliegens mit dem Menschen Theaitetos nicht kompatibel ist, im Gegensatz zur Aussage „Θεαίτητος κάθηται“44. Damit liefert Platon eine Wesensbestimmung des λόγος und ein Kriterium, um die Wahrheit eines Satzes zu überprüfen.45 Wahrheit wird jetzt als Eigenschaft des λόγος bestimmt, nicht mehr als die des Namens. Wahrheit und Falschheit der Sprache wird nicht mehr mit den einzelnen Wörtern gleichgesetzt, sondern mit dem Satz bzw. der Satzaussage.46 Mit der Erkenntnis, dass durch eine sprachliche Äußerung überhaupt etwas Falsches ausgesagt werden kann, ist das sprachphilosophische Denken der Vorsokratiker, die dies bestritten haben, überwunden.47 Nach deren Ansicht müssen Namen zwar nicht die ‚echte’ Wirklichkeit wiedergeben, sie geben aber mindestens die subjektive Wirklichkeit wieder, keine dezidiert falsche, wie dies im platonischen Denken möglich ist.
Im Tht. und im Soph. wird die Verbindung von Denken und Sprechen betont.48 Beide Komponenten können nicht voneinander getrennt werden, weil sie ihrem Wesen nach zusammengehören, denn das Denken ist der innere Dialog der Seele mit sich selbst.49
(3) Im Phaidros50 wird eine Sprachskepsis ersichtlich. Vor allem gegen Sprache in schriftlicher Form erhebt der platonische Sokrates erhebliche Zweifel:
Δεινὸν γάρ που, ὦ Φαῖδρε, τοῦτ᾽ ἔχει γραφή, καὶ ὡς ἀληθῶς ὅμοιον ζωγραφίᾳ. Καὶ γὰρ τὰ ἐκείνης ἔκγονα ἕστηκε μὲν ὡς ζῶντα· ἐὰν δ᾽ ἀνέρῃ τι, σεμνῶς πάνυ σιγᾷ. Ταὐτὸν δὲ καὶ οἱ λόγοι· δόξαις μὲν ἂν ὥς τι φρονοῦντας αὐτοὺς λέγειν· ἐὰν δέ τι ἔρῃ τῶν λεγομένων βουλόμενος μαθεῖν, ἕν τι σημαίνει μόνον ταὐτὸν ἀεί. Ὅταν δὲ ἅπαξ γραφῇ, κυλινδεῖται μὲν πανταχοῦ πᾶς λόγος ὁμοίως παρὰ τοῖς ἐπαΐουσιν, ὡς δ᾽ αὕτως παρ᾽ οἷς οὐδὲν προσήκει, καὶ οὐκ ἐπίσταται λέγειν οἷς δεῖ γε καὶ μή. (Phaidr. 275d-e)
Denn das, Phaidros, ist offenbar das Ärgerliche bei der Schrift und macht sie in der Tat vergleichbar der Malerei: Auch die Erzeugnisse der Malerei nämlich stehen da, als wären sie lebendig; fragst du sie aber etwas, so schweigen sie in aller Majestät. Und genauso ist es mit den geschriebenen Texten: Du könntest meinen, sie sprechen, als hätten sie Verstand; fragst du aber nach etwas von dem, was sie sagen, weil du es verstehen willst, so erzählt der Text immer nur ein und dasselbe. Und ist er erst einmal geschrieben, treibt jeder Text sich überall herum und zwar in gleicher Weise bei denen, die ihn verstehen, wie bei denen, für die er nicht paßt, und er weiß nicht, zu wem er reden soll und zu wem nicht. (Phaidr. 275d-e)51
Es sollten deshalb nur Überlegungen schriftlich aufgezeichnet werden, wenn sie der eigenen Erinnerung als „ὑπόμνημα“52 dienen. Als Kommunikations- und Informationsmittel kann lediglich der mündliche Dialog ernst genommen werden.53 Während Platon im Kratylos die Ansicht kritisiert, dass man Erkenntnis allein durch Wörter gewinnen kann, richtet sich seine Skepsis im Phaidr. auch auf eine mögliche Erkenntnisvermittlung durch geschriebene Sprache.54 Noch höher gewertet als der Dialog wird das Denken (νοεῖν), das Platon als „λόγον ὃν αὐτὴ πρὸς αὑτὴν ἡ ψυχή διεξέρχεται περὶ ὧν ἂν σκοπῇ“55 (eine Rede, welche die Seele bei sich selbst durchgeht über dasjenige, was sie erforschen will) versteht.
Der Siebte Brief56 formuliert die Kritik gegenüber der Sprache noch expliziter, indem Platon ein fünfstufiges Erkenntnismodell erläutert. Die ersten drei Stufen der Erkenntnis einer Sache sind für Platon ὄνομα (Name), λόγος (Erklärung) und εἴδωλον (Abbild). Die vierte Stufe ist ἐπιστήμη (Wissen), also die Erkenntnis an sich;57 unter der fünften Stufe ist der Gegenstand der Erkenntnis, also die ἰδέα (Idee) zu verstehen. Die einzige Möglichkeit, zur Erkenntnis zu gelangen, ist der Durchgang durch die ersten Stufen, da dies bei weisen Menschen zu einer plötzlichen Erkenntnis der Idee des Gegenstandes führen kann. Wer in einem Gespräch jedoch auf die Idee verweist, der wird sich nach Platons Ansicht lächerlich machen, weil die unfähigen Menschen solches nicht verstehen.58 Sie werden nicht durch den Durchgang der ersten Erkenntnisstufen an Einsicht gewinnen, auch nicht durch die Hilfe von sprachlichen Mitteln, denn die Idee kann nicht in Worten (und keinesfalls in der Schrift) erfasst werden.59 Damit ist die Sprachskepsis Platons nicht mehr nur auf die schriftliche Sprache bezogen, sondern richtet sich auch auf gesprochene Worte. Auch sie werden als Mittel, um zur Erkenntnis zu verhelfen, in Frage gestellt, da das Wort nicht geeignet ist, um das Sein einer Sache hervorzubringen.60 Platon spricht der Sprache trotz seiner Kritik aber nicht jeglichen Nutzen ab. Er ist gewillt, Möglichkeiten zu benennen, wie die Defizite bezüglich der Erkenntnis durch Sprache behoben werden können: So nennt er beispielsweise ein dauerhaftes Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler, eine enge Beziehung des Rezipienten mit der behandelten Sache oder Frage-Antwort-Spiele, die zu gegenseitiger Widerlegung führen können.61 Der λόγος dient bei Platon als sicheres Erkenntnismittel, nicht die mündliche oder schriftliche Sprache;62 deshalb spielt er in den platonischen Dialogen eine bedeutende Rolle.63 Er ermöglicht es den Menschen weiterhin, Gegenstände nicht direkt betrachten zu müssen, sondern das Wesen der Dinge im λόγος erblicken zu können.64 Es wurde bereits im Soph. deutlich, dass der λόγος einen Wahrheitsanspruch besitzt. Aus diesem Grund kommt ihm bei der philosophischen Wahrheitssuche eine zentrale Rolle zu, und von daher versteht sich der Philosoph als Freund des λόγος.65 In ihm ist der Zusammenhang von Sprachen und Denken verankert, den Platon als wechselseitig zu vollziehenden Prozess sieht, der zur Erkenntnis führt.66 Um diese und um die Kommunikation darüber geht es dem platonischen Sokrates, nicht um den Sieg in einem Gespräch. Der λόγος ermöglicht es Menschen, ihr Wissen freizusetzen und mitzuteilen. Dies alles wird nicht im Monolog, sondern vorrangig im Dialog erreicht; deshalb ist der mündliche Dialog für den platonischen Sokrates das ausschlagende Mittel, um zur Erkenntnis zu gelangen.67 Die Dialogpartner erinnern (ἀνάμνησις) sich während eines Dialogs gegenseitig an ihr ‚Ideenwissen’.68 Gleichzeitig ist darauf zu achten, dass die Gesprächspartner mit Begriffen arbeiten, die sie verstehen.69 Übereinstimmung ist also als wichtiger Bestandteil des λόγος zu werten.70
(4) Die Fragestellungen