Abb. 3: Francisco de Goya (1746–1828): Hasta la muerte. Capricho 55. 1799. Radierung. H. 2.15 cm; L. 1.5 cm. © Museo del Prado.
Die Sammlung von insgesamt 80 Zeichnungen war Baudelaire gut bekannt und er schätzte Goya außerordentlich als „grand artiste.“15 Die Assoziation des Goya-Gemäldes wird noch verstärkt durch das erste Terzett, in dem das lyrische Ich sich in der Zeichnung erkennt bzw. sich mit diesem vergleicht („un dessin fort pâle […] Qui, comme moi, meurt dans la solitude“), und in dem Goyas sich bespiegelnde, von Zeit und Vergänglichkeit gezeichnete Greisin isotopisch erscheint. Bei Baudelaire ist es die Zeit selbst, die als beleidigender Greis („injurieux vieillard“) mit rauem Flügel täglich Abriebspuren am lyrischen Ich bzw. an der Zeichnung hinterlässt („Chaque jour frotte avec son aile rude […]“). Trotzig hält das letzte Terzett diesem Befund entgegen: „Noir assassin de la Vie et de l’Art, / Tu ne tueras jamais dans ma mémoire / Celle qui fut mon plaisir et ma gloire!“ Während die Zeichnung der Zeit, diesem „noir assassin de la Vie et de l’Art“ zum Opfer fällt, wird „celle“, nämlich die dem lyrischen Ich Freude und Ruhm gewesene Imagination, die ihren Sitz im Gedächtnis hat („ma mémoire“), überleben. Die beiden Schlussverse reimen „mémoire“ und „gloire“, ein ruhmreicher Platz im kulturellen Gedächtnis steht am Ende des Gedichtes und widerlegt die eingangs topisch konstatierte vernichtende Macht des Todes. Das traditionsreiche Paragone-Argument des Nachruhms wird hier genutzt, um die Überlegenheit der synergetisch wirkenden, auf Imagination setzenden Künste Literatur und Zeichnung zu postulieren.
Konstitutiv sind bei Goya die Perspektiven der betrachtenden Distanznahme – Baudelaire verweist mit seinem Sonett auf eine Zeichnung, die ihrerseits mehr die Varietät von Sehe-Punkten auf ein Porträt und an ihm vorbei als das Porträt selbst ins Zentrum der Betrachtung stellt. Nicht nur die sich schmückende Greisin betrachtet sich, auch ihr Spiegelbild scheint seinerseits mit einem gewissen Eigenleben aus dem Spiegel heraus den betrachtenden Blick zu erwidern. Hinzu kommen die dritten Beobachtungsinstanzen, repräsentiert durch zwei junge Männer und eine Frau, die spottend den Blickkontakt mit der sich Spiegelnden meiden. Nicht zuletzt lässt die weiße Leerstelle im Spiegelbild imaginativen Platz für einen Betrachter, der der Greisin bei ihrer Selbstbespiegelung über die Schulter blickt – insofern sind auch wir als Rezipienten in unserer möglichen Position des betrachtend-gespiegelten Dritten im Bild Goyas auf Distanz präsent.
Das Sonett Le Portrait schließt somit unmittelbar an den kunstkritischen Essai Le Portrait an, bei dem die verhasste bürgerliche Seele das spiegelbildliche Gegenüber war und die Evidenz der Materialität behauptete – und der Baudelaire die reine des facultés, die Imagination entgegengesetzt hatte. Das Sonett zeichnet kein Porträt, deutet es allenfalls mit Augen und Mund an und es zeigt auch den Tod nicht, bildet ihn nicht ab. Je stärker er sich aufdrängt – im Sonett repräsentiert die scheinbare Evidenz der Gemeinplätze die scheinbare Evidenz seiner Materialität – desto vehementer setzt Baudelaire die Imagination und die Widerläufigkeit der nur scheinbar evidenten Perspektiven dagegen. Für Baudelaire geht es somit im Paragonediskurs nicht so sehr um den Wettstreit zwischen Literatur und Malerei, wichtiger sind ihm deren Koalitionsmöglichkeiten in Abgrenzung zur Photographie. Das schlagende Argument für Literatur und Zeichnung/Malerei ist – trotz aller massenbewegender Erfolge der Photographie – für ihn, dass diese Künste Grenzen des Darstellbaren nicht zu überschreiten suchen, sondern die Grenze suchen und zugunsten der Imagination an der Schwelle des Darstellbaren stehen bleiben. So endet auch sein berühmtes Gedicht Les Phares auf die Orientierung gebenden ‘Leuchttürme’ der Malerei mit den Worten: „Car c’est vraiment, Seigneur, le meilleur témoignage / Que nous puissions donner de notre dignité / Que cet ardent sanglot qui roule d’âge en âge / Et vient mourir au bord de votre éternité!“16 Gerade im Stehenbleiben an der Schwelle des Darstellbaren liegt für Baudelaire das Potential der ‚wahren‘, ‚eigentlichen‘ Kunst, die Ewigkeitshoffnung der modernen Flüchtigkeit, die die Photographie nur scheinbar erfüllt: dann reimt am Schluss – wie in Le Portrait – „mémoire“ auf „gloire“.
Baudelaire hat mit Goethe, Leopardi und Zola mindestens einen Standpunkt im Paragone-Diskurs gemeinsam: Das ‚Eigene‘ der Literatur wird dann diskussionswürdig, wenn das Literarische im Kontext kultureller Praktiken (Grand tour), künstlerischer Ausdrucksformen (naturalistische und impressionistische Avantgarde) oder Technologien (Daguerrotypie) Konkurrenz bekommt. Der Wettstreit der Künste stellt die Dichter vor die Herausforderung, die Grenzen und Möglichkeiten des Literarischen auszuloten und neu zu bestimmen: in Symbiose mit oder in Demarkation zu den anderen Künsten. Gestritten wird nicht immer laut: Es sind gerade die leise und subtiler vorgetragenen Argumente, die den Paragone nicht nur als literarischen Gegenstand, sondern auch in seinem ästhetischen Potential für die Literatur hervortreten lassen.
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
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–: Lettre à M. le Directeur de la Revue française sur le Salon de 1859. Hgg. Wolfgang Drost und Ulrike Riecher. Paris 2006.
–: „Quelques caricaturistes étrangers“. Œuvres complètes. Bd. 2. Hg. Claude Pichois. Paris 1976. 564–574.
De Staël, Germaine: Corinne ou l’Italie. Texte établi, présenté et annoté par Simone Balayé. Paris 2000.
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Lessing, Gotthold Ephraim: „Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie“. Werke in acht Bänden. Bd. VI. Hg. Karl Eibl u.a. München 1974. 7–187.
Mallarmé, Stéphane: „Les impressionistes et Edouard Manet“. Œuvres complètes. Hg. Bertrand Marchal. Bd. 2. Paris 2003. 444–470.
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–: „Lettres de Paris. Deux expositions d’art au mois de mai. Le salon de 1876“. Œuvres complètes. Bd. 12. Hgg. Georges Besson, Henri Mitterand und Gaétan Picon. Paris 1969. 946–971.
Forschungsliteratur
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Balayé, Simone: Les Carnets de voyage de Mme de Staël, Contribution à la genèse de ses œuvres. Genève 1971.
Boutier, Jean: Le Grand Tour: une paratique d’éducation des noblesses européennes (XVIe–XVIIIe siècles). (http://hal.archives-ouvertes.fr/docs/00/05/10/63/PDF/Boutier,%20J.-2004-GrandTour.pdf).