Nach diesem einführenden Überblick möchte ich in meinem Beitrag weitere Etappen des Paragone vorstellen und dabei auf Texte von Goethe, Leopardi, Zola und Baudelaire rekurrieren. Mit Goethe, Leopardi und Zola möchte ich zeigen, dass im 18. und 19. Jahrhundert die Flexibilität der Fokalisierung zum privilegierten Argument in der Paragone-Diskussion zwischen Malerei und Dichtung wird: Die literarische Thematisierung des Sehe-Punktes selbst, auch in seiner Variabilität und möglichen Gegenläufigkeit, wird der Ausführung malerischer Perspektive gegenübergestellt. Im letzten Teil werde ich ein Beispiel dafür geben, inwiefern das Erscheinen einer neuen Kunst, der Photographie, zu neuen Selbstbestimmungen der Literatur geführt hat und diese dabei weniger die Abgrenzung, sondern die Koalition mit den Bildkünsten suchte: Baudelaire.
Ein folgenreicher kulturgeschichtlicher Kontext für die Etappen des Paragone-Diskurses ist – neben der Renaissance – der Grand tour,9 die Konjunktur einer Bildungsreise,10 die zunächst Aristokraten, dann aber auch Gelehrte und schließlich Bürgerliche Europas unter dem Vorzeichen sich wandelnder Konventionen und Bildungsziele aufbrechen ließ. Reise, Reiseerleben, Reisebericht und Reisedeutung waren damals wie heute nicht nur von Unmittelbarkeit und Subjektivität, sondern auch von Konventionalität und Normen geprägt.11 Die apodemische Literatur, aber auch die Künste haben zu dieser ‚Anleitung zum Sehen‘ beigetragen: Die Landschafts- und Vedutenmalerei von Hackert und anderen Malern seiner Zeit präformiert und konserviert den Blick der Reisenden, sie macht die Reiseerfahrung zum Wiedererkennen und zum Suchen von Bekanntem im Claude-Glas.12 Und auch Reiseberichte und Reiseromane sind nicht nur eine Auflistung von Sehenswertem und Gesehenem, sondern sie reflektierten Wahrnehmungsästhetiken, die von der ‚Kunst des Reisens‘ geprägt und getragen wurden. Literatur und Malerei traten dabei in ein zugleich synergetisches wie paragonales Verhältnis und ihr jeweiliges die Wahrnehmung beeinflussendes Potential schien manchen so stark, dass sie auch als Konkurrent der ‚eigenen‘ Sicht auf die Dinge beschrieben wurden. „Man sah keine Natur mehr, sondern nur Bilder“, so schildert Goethe seine Eindrücke in der Italienischen Reise13 und Germaine de Staël bedauert in ihren Carnets de Voyage en Italie beim Anblick des Vesuvkraters wenige Jahre später: „Le souvenir des poètes, Milton, Virgile, est la seule chose qui diminue l’impression de ce spectacle. On voudrait le voir en sauvage sans avoir rien lu."14 Die Künste werden in Goethes Italienischer Reise und in Germaine de Staëls Carnet de Voyage en Italie zum Hindernis des Reiseblicks. Die Reisenden tragen Malerei und Literatur scheinbar unwillkürlich und in gewissem Maße auch unfreiwillig im Gepäck und nun verstellen sie die Sicht auf das Bereiste. Bei Goethe ist es die von der Reisekonjunktur des späten 18. Jahrhunderts inspirierte Landschaftsmalerei, die sich zwischen den Betrachter und die Natur schiebt,15 und bei Gemaine de Staël sind es kanonische Werke der Antike bzw. des 17. Jahrhunderts, die den unmittelbaren Eindruck unmöglich machen, ihn stets kulturell relativieren und kontextualisieren. Insofern ist sowohl in der Italienischen Reise als auch in den Carnets de Voyage von einem Paragone zwischen unmittelbarer Wahrnehmung und Reise-Erfahrung einerseits und einem kunstvermittelten Reiseblick andererseits zu sprechen. Goethe und Germaine de Staël schreiben sich bzw. ihre literarischen Figuren hier mit ihrem Wunsch nach einem von Literatur und Kunst unverstellten Blick einerseits mehr oder weniger affektiert in einen Wissenschaftsdiskurs ein: Sie inszenieren sich bzw. ihre Figur als informierten Teil eines kulturellen Gedächtnisses, verleihen damit ihrem Text kulturellen Status. Zugleich thematisieren sie durch diese (Selbst)Inszenierung die uneinholbare Präformation des Reiseblicks auf Italien, der jede Authentizität und Einmaligkeit des Reiseerlebnisses in Frage stellt. Das von Germaine de Staël ersehnte voir en sauvage ist verloren, oder besser: Reisen ohne Literatur und Kunst gibt es eigentlich gar nicht. Manchmal scheinen die Künste schneller zu sein als der Reisende selbst, wie in den hier genannten Beispielen – sie stehen schon als Bild oder Text in der betrachteten Landschaft und scheinen schon Teil von ihr gewesen zu sein, bevor man selbst den Blick auf sie richtet.
2. Goethes Italienische Reise: literarische Betrachtung des eigenen Sehe-Punktes
Goethes Blick ist eigentlich nie auf Italien gerichtet, er sieht immer das Bild bzw. den Text davor oder dahinter oder aber er betrachtet seine Perspektive selbst. Gerade diese Thematisierung der Perspektive macht das spezifisch Literarische für ihn aus, ist das, was die Literatur der Vedutenmalerei entgegen zu setzen hat, auch wenn sie sie für sich funktionalisiert: Die literarische Reisebeschreibung Goethes beschreibt nicht das, was das reisende Ich sieht (das erschöpft sich sowieso in dem, was durch Bilder bekannt ist), sondern sie fokussiert auch den perspektivischen Ausgangspunkt des Reisenden. Goethe bringt in seiner Italienischen Reise die fast erdrückende Überlegenheit bildkünstlerischer Reisedarstellungen gegenüber der Reiseliteratur zum Ausdruck. Insbesondere Goethes Sizilienreise1 ist ein Gang durch eine Bildergalerie. Goethe beschreibt und betrachtet nicht Landschaft, sein Reisebericht ist Ekphrasis im Paragone der Künste:
Mit keinen Worten ist die dunstige Klarheit auszudrücken, die um die Küsten schwebte, als wir am schönsten Nachmittage gegen Palermo anfuhren. Die Reinheit der Konture, die Weichheit des Ganzen, das Auseinanderweichen der Töne, die Harmonie von Himmel, Meer und Erde. Wer es gesehen hat, der hat es auf sein ganzes Leben. Nun versteh’ ich erst die Claude Lorrains und habe Hoffnung, auch dereinst in Norden aus meiner Seele Schattenbilder dieser glücklichen Wohnung hervorzubringen.2
Goethe nutzt hier den literarischen Text, um ihn zugleich in seiner mimetischen Kompetenz in Frage zu stellen. Die Ansicht Siziliens vermag er zu erfassen („Mit keinen Worten“), literarische Sprache vermag allenfalls als Ekphrasis verweisende Kraft zu entfalten („Konture“, „Ganzes“, „Töne“, „Harmonie“), ansonsten wird ihr Versagen bescheinigt. Goethes Italienische Reise beschreibt nicht das einmalige, ‚authentische‘ Reiseerlebnis, sondern ist immer schon Wiederholung einer bereits gemachten und künstlerisch repräsentierten Erfahrung und verweist vom erlebten Moment („wer es gesehen hat“) weg: erstens durch die Generalisierung des individuell-subjektiven Erlebens, zweitens durch die Perspektive auf die zeitüberdauernde Bedeutung („der hat’s auf ein ganzes Leben“). Die Transformation subjektiven Erlebens in im Wortsinn medialisierte Wahrnehmung bedarf keines externen Mediums mehr: Goethe nutzt hier nicht mehr wie seit dem 17. Jahrhundert und auch noch bei seinen Zeitgenössen beliebt das Claude-Glas, um sein Landschaftserleben dem von Lorrain künstlich anzugleichen, sondern es stellt sich quasi auf unvermittelte (und insofern fast schon wieder authentische) Weise die Wahrnehmungsähnlichkeit mit der bildkünstlerischen Vermittlung Claude Lorrains her. Aber alle sich andeutende Unmittelbarkeit des sehenden Erlebens wird sogleich in den Horizont zukünftiger Erinnerung („dereinst im Norden“) gerückt. Goethes literarisches Italien-Bild ist bei Goethe nie Original und Urbild, sondern gegenwärtig erinnerter Teil des kulturellen Bildgedächtnisses (Lorrain) oder in Aussicht gestelltes eigenes literarisches ‚Schattenbild‘, stets Mimesis seiner selbst.
In Goethes Italienischer Reise lassen sich aber auch Hinweise auf eine selbstbewusstere Konzeptionalisierung des Literarischen ausmachen, die Literatur nicht nur als pictura loquens, sondern als charakteristische Kunst mit Potentialen beschreibt, die jenseits dessen liegen, was die Malerei zu bieten hat. So beschreibt Goethe seine Ankunft mit dem Schiff auf Sizilien:
Anstatt ungeduldig ans Ufer zu eilen, blieben wir auf dem Verdeck, bis man uns wegtrieb; wo hätten wir einen gleichen Standpunkt, einen so glücklichen Augenblick so bald wieder hoffen können! […] Der Wirt [unseres Gasthofs], ein alter behaglicher Mann, von jeher Fremde aller Nationen zu sehen gewohnt, führte uns in ein großes Zimmer, von dessen Balkon wir das Meer und die Reede, den Rosalienberg und das Ufer überschauten, auch