Linguistic Landscape als Spiegelbild von Sprachpolitik und Sprachdemografie?. Philippe Moser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Philippe Moser
Издательство: Bookwire
Серия: Tübinger Beiträge zur Linguistik (TBL)
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823301950
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der Stadt, von denen verlangt wird, dass sie mit den Bürgerinnen und Bürgern in beiden Sprachen umgehen können. (Werlen 2010: 13)

      Dies wiederum entspricht der Fragestellung nach der Hauptsprache in den Schweizer Volkszählungen bis 2000 (vgl. A.2.0). Gemäss den Ergebnissen dieser Volkszählung von 2000 gelten in Biel denn auch 55,4% als deutschsprachig und 28,1% als französischsprachig, als Hauptsprache von 16,4% gelten weder Deutsch noch Französisch (vgl. Werlen 2010: 12). Die Kompetenzen in der jeweils anderen Sprache (Deutsch oder Französisch) scheinen jedoch gemäss den Untersuchungen des ‹Barometers der Zweisprachigkeit› bei einem grossen Teil der Stadtbevölkerung sehr hoch zu sein7.

      Die Strukturerhebungen des Bundesamtes für Statistik lassen seit 2010 Mehrfachnennungen zu (und stehen für Biel als «grosse Stadt» auch nach Jahr zur Verfügung). Im Jahr unserer hauptsächlichen Datenerhebung in Biel, 2015, nennen 23 792 Deutsch und 15 385 Französisch als Hauptsprache8.

      Für den Verwaltungskreis Biel/Bienne sind es 2014-2016 (kumuliert) 62 417 für Deutsch und 26 370 für Französisch, welches in der Stadt also im Verhältnis zu Deutsch häufiger als Hauptsprache genannt wird als im umliegenden Gebiet des Verwaltungskreises.

      A.2.4 Aosta (Region Aostatal und Stadt Aosta)

      A.2.4.1 Sprachgeschichtlicher Überblick

      Der Schwerpunkt liegt in diesem kurzen Überblick über die Geschichte der heutigen Autonomen Region Aostatal und der Stadt Aosta auf denjenigen Ereignissen, die einen massgeblichen Einfluss hatten auf die aktuelle Sprachsituation, wie wir sie in A.2.4.2 beschreiben werden. Für eine ausführlichere Darstellung der Geschichte des Aostatals verweisen wir auf den historischen Abriss von Bauer 1999 (5-219), der auch als Grundlage dieser Übersicht dient.

      Bereits die Fragen nach der ersten Besiedelung des Aostatals sind für spätere (sprach)politische Diskussionen von Bedeutung. Als erste Bewohner des Aostatals gelten die Salasser. Es wird davon ausgegangen, dass sie im 1. Jahrtausend v.Chr. in die Region einwanderten (Bauer 1999: 6). Unklar ist jedoch ihre Zuordnung:

      Der in der Fachwelt ausgetragene Disput, ob die Salasser nun den Ligurern […] oder den Kelten […] zuzuordnen seien, ist insofern delikater Natur, als mit den Argumentationsstrategien beider Seiten fallweise auch ideologisch-nationalistische Hintergedanken verbunden sind. Das Prinzip, von dem vielfach ausgegangen wird, ist unschwer zu durchschauen: Wer nachweisen kann, dass die von der Historiographie dokumentierte sogenannte Urbevölkerung der VDA [Valle d’Aosta=Aostatal] der ihm genehmen Ethnie X angehört, fühlt sich im Recht, kultur- bzw. sprachpolitische Argumentationen des Typs X voranzutreiben und zugleich die gegnerische Ansicht des Typs Y abzulehnen. Für Vegezzi-Ruscalla beispielsweise waren die ersten Valdostaner eindeutig südangebundene Ligurer, ein Grund mehr, die VDA als genuin italienisch einzustufen und alles Französische zu bekämpfen. (Bauer 1999: 7)

      Die Romanisierung des Aostatals setzt mit der Gründung der römischen Kolonie Augusta Praetoria Salassorum und ihrer strategisch gelegenen und daher rasch wachsenden Hauptstadt Augusta Praetoria (das heutige Aosta) im Jahr 25 v.Chr. ein (Bauer 1999: 13-17). Nach dem Untergang des weströmischen Reichs im Jahr 476 steht die Region in kurzen Abständen unter verschiedenen Herrschaften.

      Die Ausrichtung nach Westen beginnt 575, als das Aostatal Teil des franko-burgundischen Reichs wird (dem es anschliessend während fast drei Jahrhunderten angehört, vor einer wahrscheinlichen Zugehörigkeit zum Burgund) und als sich das Bistum Aosta, bis dahin von Mailand abhängig, in den Einfluss des Bistums Vienne stellt. Die neue Ausrichtung hat auch Einfluss auf die sprachliche Situation:

      Damit beginnt definitiv die sprachliche Orientierung hin zur Galloromania (speziell zur heutigen Dauphiné, zu Savoyen und zum Wallis). Pont-Saint-Martin ist, durchaus im Sinn einer Sprachgrenze, wieder Grenzort zur Ebene hin, in der weiterhin die Langobarden herrschen, und wird es solange bleiben, bis die Herzöge von Savoyen in die Poebene vorstossen. (Bauer 1999: 18)

      Die Einflüsse der geschichtlichen Ereignisse auf die sprachliche Situation sind, gemäss Bauer, für die geschriebene und für die gesprochene Sprache getrennt zu betrachten. Als gesprochene Sprache wird Frankoprovenzalisch bezeichnet (vgl. Bauer 1999: 20), während Latein weiterhin Schriftsprache bleibt.

      Das 11. Jahrhundert wird schliesslich als Beginn der jahrhundertelangen Herrschaft Savoyens im Aostatal verstanden (Bauer 1999: 25), die mit der Charte des franchises von 1191, welche zunächst nur für die Stadt Aosta und erst später für weitere Gebiete gilt, offiziell bestätigt wird.

      Innerhalb Savoyens erhält das Aostatal im 16. Jahrhundert eine gewisse Autonomie und mit dem ‹Conseil des Commis› eine regionale Regierung. Diese Epoche der Herrschaft von Herzog Emmanuel-Philibert ist auch für die Sprachsituation von besonderer Bedeutung:

      Der Herzog betrieb Sprachpolitik im wahrsten Wortsinn, als er, ähnlich der […] 1539 verordneten ordonnance von Villers-Cotterêts, das Lateinische in den Gerichtsakten offiziell ersetzen liess. Im Piemont schrieb er 1560 Italienisch vor, im Aostatal 1561 Französisch. (Bauer 1999: 39)

      Französisch wird also offizielle Schriftsprache der Region. Jablonka hält allerdings fest, dass die im Edikt von 1561 vorgeschriebene «langue françoise» durchaus auch das Frankoprovenzalische zugelassen haben könnte (vgl. Jablonka 1997: 47-48). Im mündlichen Gebrauch herrscht jedenfalls klar das Frankoprovenzalische vor (vgl. Bauer 1999: 41). Italienisch wird im benachbarten und teilweise ebenfalls von Savoyen beherrschten Piemont verwendet und scheint sich zu dieser Zeit auch ins Aostatal auszubreiten, allfällige offizielle Dokumente auf Italienisch werden im Aostatal jedoch von Emmanuel-Philibert untersagt (vgl. Bauer 1999: 44). Auch seine Nachfolger im 17. Jahrhundert halten an den Privilegien des Aostatals und am offiziellen und ausschliesslichen Gebrauch des Französischen (und vielleicht auch des Frankoprovenzalischen) fest, welches namentlich durch Bildungsinstitutionen wie das Collège Saint-Bénin oder die Dorfschulen vermittelt wird.

      Auch als das Herzogtum Savoyen-Piemont 1713 vergrössert und zum Königreich von Sizilien wird, behält das Aostatal weitgehend seine Sonderstellung. Erst als 1730 Karl Emmanuel III Herzog wird, ändert sich die Situation im Aostatal, das nach und nach seine Privilegien verliert, bis zum Ende des sogenannten ‹Régime valdotain› durch die Abschaffung des ‹Conseil des Commis›.

      Nach der französischen Revolution schliesslich gelangt mit der Annexion Savoyens auch das Aostatal unter französische Herrschaft und wird Teil des ‹Departement Doire› – gegen Widerstand aus der Bevölkerung, der sich aber in erster Linie gegen die revolutionären Jakobiner und nicht gegen Frankreich an sich richtet (vgl. Bauer 1999: 63).

      Als durch den Wiener Kongress das Königreich Sardinien-Piemont wiederhergestellt wird, ist auch das Aostatal erneut Teil davon. Die valdostanischen Privilegien werden endgültig abgeschafft, die französische Sprache behält allerdings ihren Status:

      Das monarchistisch-repräsentative Statuto Albertino vom März 1848, die Basis der späteren italienischen Verfassung von 1861, eliminierte die letzten Reste valdostanischer Privilegien, mit Ausnahme des Rechtes auf Verwendung der französischen Sprache […]:

      La lingua italiana è la lingua ufficiale della Camera. È però facoltativo di servirsi della francese ai membri che appartengono ai paesi in cui questa è in uso, o in risposta ai medesimi.1

      (Bauer 1999: 65-66)

      Im Zuge der Ereignisse um die Einigung Italiens gelangt schliesslich ein grosser Teil Savoyens zusammen mit Nizza an Frankreich, lediglich das Aostatal geht an Italien und «[s]omit waren die Valdostaner mit einem Mal zu einer sprachlichen Minderheit in einem im Entstehen begriffenen, zunehmend auch auf sprachliche Einheit bedachten italienischen Staat geworden» (Bauer 1999: 69). Vor diesem Hintergrund verfasst der italienische Parlamentsabgeordnete Giovenale Vegezzi-Ruscalla 1861 seinen Text gegen den Gebrauch der französischen Sprache im Aostatal und in anderen nun zu Italien gehörenden Regionen. Er fordert zwar kein Verbot der französischen Sprache, jedoch die Italianisierung der Toponyme. Diese ist heute nicht mehr existent2, die Texte von Vegezzi-Ruscalla (und die ablehnenden Reaktionen, die sie hervorrufen) scheinen aber dennoch im Bewusstsein geblieben zu sein, wie Bauer aufzeigt (vgl.