Linguistic Landscape als Spiegelbild von Sprachpolitik und Sprachdemografie?. Philippe Moser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Philippe Moser
Издательство: Bookwire
Серия: Tübinger Beiträge zur Linguistik (TBL)
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823301950
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als «zweite Umgangs- und Bildungssprache» der Oberschicht (HLSi: 2.7.) gebräuchlich war. Dies ändert sich mit der raschen Stadtentwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in deren Folge sich die überbaute Fläche rund verzehnfacht. Die Stadt erlebt namentlich dank dem Uhrmacherhandwerk, das als Ersatz für die gescheiterte Baumwollindustrie eingeführt wird, einen wirtschaftlichen Aufschwung.

      Für diesen neu in Biel angesiedelten Zweig werden zahlreiche Arbeitskräfte aus den französischsprachigen Gebieten des nahegelegenen Jura in die Stadt geholt (vgl. Kaestli 2013a: 666). Erst diese Einwanderungen legen den eigentlichen Grundstein für die heutige Zweisprachigkeit der Stadt Biel, die also im Vergleich zu Murten und Freiburg (vgl. A.2.1.1 und A.2.2.1) sehr spät entstanden ist. Die Zweisprachigkeit scheint jedoch sehr schnell in die städtische Realität integriert worden zu sein. Bereits 1845 wird auf eine Forderung der französischsprachigen Gemeinschaft des Uhrmacherhandwerks die erste französische Schule eröffnet, die zunächst als private Einrichtung funktioniert und später von der Gemeinde übernommen wird. Auch ein erstes Projekt für eine zweisprachige Schule existiert bereits zu dieser Zeit: Das Schulreglement von 1857 sieht keine französischsprachigen Schulen, sondern zweisprachigen Unterricht für alle vor. Das Projekt scheitert schliesslich am Mangel an zweisprachig qualifizierten Lehrkräften (vgl. Kästli 2013a: 670). 1893 nimmt die französischsprachige Bevölkerung Biels mit der Umgestaltung der politischen Institutionen der Gemeinde erstmals offizielle Vertretungen in der Stadtpolitik ein (vgl. Kästli 2013b: 756).

      Im 19. Jahrhundert findet aber auch eine Einwanderung aus deutschsprachigen Gebieten statt, die ihrerseits Einfluss auf den Sprachgebrauch der deutschsprachigen Stadtbevölkerung hat:

      [Es] wirkte sich aber auch die deutschsprachige Einwanderung aus dem benachbarten Seeland aus. Die Einwanderer brachten berndeutsche Dialekte mit und trugen so zur Veränderung des Bieler Dialekts bei. (Werlen 2010: 11)

      Das schnelle Wachstum der Stadt führte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schliesslich auch zu einer Verschiebung des Stadtzentrums weg von der Altstadt, «indem der Schüssübergang zwischen Altstadt und dem 1923 eingeweihten neuen […] Bahnhof […] als Zentralplatz gestaltet wurde» (HLSi: 3.2).

      Während die Spannungen zwischen der deutschsprachigen und der französischsprachigen Schweizer Bevölkerung während des Ersten Weltkriegs in Freiburg deutlich zu spüren sind (vgl. A.2.1.1), sind die Auswirkungen im nunmehr zweisprachigen Biel geringer. Zwar finden sich auch in Biel Anzeichen für unterschiedliche Sympathien der beiden Sprachgemeinschaften, beispielsweise in der Presse, Konflikte bleiben jedoch aus (vgl. Gaffino 2013a: 779-782).

      Nach dem Zweiten Weltkrieg wird die französischsprachige Minderheit stärker in das politische und kulturelle Leben der Stadt eingebunden, wodurch auch die Präsenz der französischen Sprache im öffentlichen Raum zunimmt. 1947 wird erstmals ein französischsprachiger Stadtpräsident gewählt, in dessen Amtszeit 1955 das erste französischsprachige Gymnasium eröffnet wird. Mit dem ‹Capitole› und seinem Gastspieltheaterbetrieb wird Französisch auch zu einer Sprache des Bieler Kulturlebens. Stimmen, die dieser Entwicklung kritisch gegenüberstehen und eine Schwächung der Übermacht der Mehrheitssprache Deutsch ablehnen, existieren zwar, werden aber wenig beachtet, wie das Beispiel der Zeitung Der Bieler zeigt, die mit ihrer antifranzösischen Haltung in Biel keinen Verlag findet und in Zürich erscheinen muss (Gaffino 2013b: 897-903).

      A.2.3.2 Aktuelle Sprachsituation

      Biel ist heute Hauptort des Verwaltungskreises Biel/Bienne, der zusammen mit dem Verwaltungskreis Seeland zur gleichnamigen Verwaltungsregion Seeland gehört. Sowohl der Kanton Bern als auch der Verwaltungskreis Biel/Bienne sind offiziell zweisprachig, unter grundsätzlicher Einhaltung des Territorialitätsprinzips. Die gesetzliche Grundlage dafür regelt Artikel 6 der Verfassung des Kantons Bern (während Artikel 15 die Sprachfreiheit gewährleistet):

       Art. 6 Sprachen

      1 1 Das Deutsche und das Französische sind die bernischen Landes- und Amtssprachen.2 Die Amtssprachen sinda das Französische in der Verwaltungsregion Berner Jura,b das Deutsche und das Französische in der Verwaltungsregion Seeland sowie im Verwaltungskreis Biel/Bienne,c das Deutsche in den übrigen Verwaltungsregionen sowie im Verwaltungskreis Seeland.3 Die Amtssprachen der Gemeinden in den Verwaltungskreisen der Verwaltungsregion Seeland sinda das Deutsche und das Französische für die Gemeinden Biel/Bienne und Leubringen,b das Deutsche für die übrigen Gemeinden.4 Kanton und Gemeinden können besonderen Verhältnissen, die sich aus der Zweisprachigkeit des Kantons ergeben, Rechnung tragen.5 An die für den ganzen Kanton zuständigen Behörden können sich alle in der Amtssprache ihrer Wahl wenden.

      (Verfassung BE, Art. 6)

      Die Verfassung des Kantons Bern regelt in diesem Artikel auch die offizielle Anerkennung der französischen und deutschen Sprache in der Gemeinde Biel. Diese bildet also – zusammen mit der Gemeinde Leubringen – eine der wenigen Ausnahmen zum Territorialitätsprinzip (sofern dieses als territoriale Aufteilung einsprachiger Gebiete verstanden wird) und ist die einzige Schweizer Stadtgemeinde, die eine solche Ausnahme darstellt. Diese offizielle Anerkennung zweier Sprachen bedeutet einen Unterschied zu den Situationen in Freiburg und Murten (vgl. A.2.1.2 und A.2.2.2). In Artikel 3 der Stadtordnung (Stadt Biel, SGR 101.1) wird die offizielle Zweisprachigkeit Biels auf Gemeindeebene wiederholt1:

       Art. 3 – Amtssprachen

      1 1 Deutsch und Französisch sind gleichberechtigte Amtssprachen im Verkehr mit städtischen Behörden und mit der Stadtverwaltung.

      2 2 Städtische Erlasse und amtliche Mitteilungen an die Bevölkerung sind in deutscher und französischer Sprache abzufassen.

      (Stadtordnung Biel, Art. 3)

      Auch im Bereich der Schule2 oder des kulturellen Angebots wird die Zweisprachigkeit Biels hervorgehoben und soll gefördert werden. Die Stadt betont die Anerkennung und Förderung der Zweisprachigkeit regelmässig in ihrer Kommunikation nach aussen, beispielsweise auf ihrer Website (vgl. auch Brohy 2011: 114)3, durch Slogans wie «Biel/Bienne – la bilingue» (vgl. B.3.6) oder «Willkommen in Biel/Bienne – grösste zweisprachige Stadt der Schweiz und Uhrenweltmetropole»4, und die Zweisprachigkeit wird gerne als prägendes Merkmal dargestellt, oder wie es Werlen (2010: 9) ausdrückt: «Neben Biel gelten verschiedene andere Schweizer Gemeinden als zweisprachig, aber keine ist es so offensichtlich und so programmatisch.» Die Gemeinde untersucht und überwacht den Zustand ihrer Zweisprachigkeit durch Einrichtungen wie das Forum für die Zweisprachigkeit mit dem ‹Barometer der Zweisprachigkeit›5, der beispielsweise für 2008 zu einem äusserst positiven Schluss kommt, zusammengefasst in Conrad/Elmiger 2010:

      Die Zweisprachigkeit wird in Biel gelebt und sie ist breit akzeptiert. Sie ist ein Bestandteil der Identität der BewohnerInnen. Diese realisieren auch, dass die Stadt bestrebt ist, diese Besonderheit zu fördern. Die Anstrengungen hierzu werden von der gesamten Bevölkerung vorteilhaft aufgenommen und sie wirken sich positiv auf das Zusammenleben in Biel aus. (Conrad/Elmiger 2010: 106)

      Auch die Ausgabe von 2016 kommt weitgehend zu den erhofften Resultaten, wie die Zusammenfassung auf der entsprechenden Website zeigt:

      Die Ergebnisse der breit angelegten, von Juni bis Februar 2016 durchgeführten Umfrage unter der Bieler Bevölkerung zeigen, dass die Zweisprachigkeit in der Seelandstadt acht Jahre nach dem letzten «Barometer» weiterhin positiv bewertet wird. Obwohl die Zweisprachigkeit ein fester Bestandteil der Identität der Bieler‑innen ist und in den Augen der Bevölkerung mehr Vor- als Nachteile mit sich bringt, sind die Französischsprachigen in diesem Jahr unzufriedener als 2008.6

      Es gilt jedoch auch festzuhalten, dass die Einwohnerinnen und Einwohner trotz der Anerkennung der institutionellen Zweisprachigkeit auf Gemeindeebene durch die Stadtverwaltung als jeweils einsprachig verstanden werden.

      [Die] Ausgestaltung der amtlichen Zweisprachigkeit enthält einen inneren Widerspruch. Die Stadt selbst versteht sich als zweisprachig – aber sie betrachtet die Bewohnerinnen und Bewohner nur als einsprachig deutsch oder französisch. Zweisprachige Personen werden von der Stadt immer