Betrachtet Prudentius also Verwirrung und Ordnungsstörung als zentrale anthropologische Herausforderung, so führt die Psychomachia dagegen scharfe Abgrenzungen ins Feld, die bestimmen und sichern. Sie führen nicht nur zu extremer Reduktion und Schematik in der Zweikampfdarstellung und zu ›monströser‹ Überzeichnung von Lastern,8 sondern prägen ebenso den Verlauf der Kämpfe und schließlich die Überwindung des Kampfzustandes. Der Preis solcher Abgrenzungen ist Gewalt. Bis zum Risiko paradoxer Verwicklungen von Tugenden und Lastern steigern sich die Aggressionen zu drastischen Bildern von eigener Intensität:9 Glaube quetscht dem Vielgötterglauben mit Fußtritten die Augen aus dem Kopf (V. 32f.); Demut streckt triumphierend das blutüberströmte Haupt des Hochmuts empor, das obendrein von der Hoffnung verhöhnt wird (V. 282–287); Nüchternheit zerschmettert mit einem Stein den Kiefer des Genusses, der die Splitter qualvoll hervorwürgt (V. 421–426). Ziel des literarischen Seelenkampfes ist somit nicht nur, das Selbst des Menschen als ordnungsbedürftigen Raum präsent zu machen. Agonale Reizreden und hyperbolische Bilder zielen vielmehr darüber hinaus, eine Ordnung gewaltsamer Abgrenzung mit aller Intentisität vor Augen zu stellen.10
Doch offenbaren zentrale Begriffe und Metaphern zugleich, wie riskant diese Imaginationsstrategie angelegt ist. Abgrenzungen erweisen sich als instabil und dynamisch, wenn etwa das Herz wechselweise als gefangenes Organ (Praefatio, V. 14; V. 10, 514), als Waffe gegen die affektiven Verstrickungen des Körpers (V. 52) oder als Haus (casa, domus) angesprochen wird, in dem der Kampf zu führen (V. 62, 68) und das schließlich als Tempel zu weihen ist (V. 843f.). So wichtig die Verräumlichung des kriegerischen Schauplatzes für die Psychomachia ist, so variabel scheint dieser konfiguriert, wenn nicht nur der Körper, sondern ebenso das Herz als Kerker bezeichnet wird. Nacheinander greift Prudentius zu Innenraummetaphern (Kerker) und Außenraummetaphern (campus des Krieges, castrum der Tugenden etc.) und hält dadurch die anthropologische Orientierung der Allegorie offen. Wird verwirrte Ordnung eingangs als Kernproblem ausgerufen, so liefert die Psychomachia keine scharf gezogene, stabile Ordnung von Begriffen des Körpers, des Geistes und des Herzens.11 Wie wird die Ordnung des Selbst dann aber hergestellt? Ich setze dafür nochmals bei der dreigliedrigen Textstruktur an, die (1.) Vorrede und Eingangsgebet, (2.) Kampfbeschreibung von Tugenden und Lastern und (3.) das Schlussgebet zyklisch miteinander verbindet. Ihr korrespondiert ein dreischrittiges Erzählverfahren, das zweimal die Grenze zwischen Innen und Außen des Menschen kreuzt und beide Seiten bearbeitet:
(1.) Bearbeitung des Innenraums. Die Vorrede verortet zunächst den Konflikt detailliert innerhalb des Menschen, indem sie den Blick von zeitlich früheren, äußeren Kriegen nach innen lenkt: Abraham habe vorbildlich gezeigt, wie gegen die weltlichen Völker zu kämpfen sei (V. 9); an ihm solle ein kriegerischer Geist (bellicosus spiritus) sich im Kampf gegen die Monster orientieren, denen das Herz diene (Praefatio, V. 13f.). Auch Loth liefert ein Exempel der Befreiung aus sklavischer Kriegsgefangenschaft (V. 15–49). Die figura (V. 50) solcher Vorbilder solle sich in unserem Leben widerspiegeln: Der Körper in all seinen Teilen sei aus der Fessel der Begierde zu befreien, damit Christus in das ›kleine Haus des schamhaften Herzens‹ eintreten könne (Praefatio, V. 62: paruam pudici cordis intrabit casam). Zweifach betont auch das Eingangsgebet den Körper als Schauplatz dieses Kampfes: Die Sünden seien mit bewaffnetem Geist (mens armata) »aus der Tiefe unserer Brust« (V. 6: nostri de pectoris antro) zu vertreiben; als »guter Führer« werde Christus »im besetzten Körper« (V. 14: obsesso in corpore) mit Schwadronen (turmas) gegen die Entehrung des Herzens kämpfen und siegen. Typologische Vor-Bilder des Kampfes verlagert Prudentius somit zunächst in Körper und Herz des Menschen hinein, die zu umkämpften Orten werden.
(2.) Bearbeitung des Außenraums. Der narrative Hauptteil des Textes projiziert diesen Kampf über vier Etappen in den Außenraum. Unvermittelt erzählt er eine Serie von drei Duellen, deren Ort zunächst unbestimmt bleibt, da äußere oder innere Referenzen fehlen. Als vier weitere Kampfbegegnungen das Szenario vom Duell zu Gruppenkämpfen ausweiten, treten solche Referenzen hinzu, womit sich ein Außenraum abzeichnet: Der Überblick fällt auf einen ausgedehnten Kampfplatz (vgl. V. 260f.: belli / planitiem; vgl. V. 637: campus) mit Fallgruben und Reihen verschiedener Reiterschwadronen (V. 109–112, 178–182, 195, 241), die sich gegenseitig beobachten und bekämpfen. Bezüge auf das ›Haus‹ des Körpers / Herzens unterbleiben weitgehend (V. 217–219) und kehren sich geradezu um, wenn die Laster im »Kerker« ihrer Körper zugrunde gehen (V. 595). Nach anfänglicher Einlagerung stülpt sich der Kampf damit metaphorisch nach Außen,12 indem die Erzählform staffelartig Tugenden als Formationen aufreiten lässt und verräumlicht.
Die letzten Gruppenkämpfe dehnen diese äußere Raumordnung maximal aus. Auf der einen Seite schwingt sich Demut nach ihrem Sieg zum Himmel, während die anderen Tugenden weitere bella […] terrena ausfechten (V. 305–309). Auf der anderen Seite unterwirft Geiz alle Völker der Welt (V. 480f.: per populos […] uictrix / orbis): »was ganze Zeitalter erstreben, die Unruhe der Welt und rasende Geschäftigkeit, geht auf uns zurück«.13 Das Schlachtfeld greift am Ende auf kosmische Dimensionen (caelum, mundus; vgl. auch V. 587) aus.
Mit dem Schlussbild des Feldlagers (castrum) greift Prudentius Stichworte14 des römischen Militärwesens auf, um den äußeren Kampfraum nochmals zu variieren. Auf einem Hügel in der Mitte des Lagers, von wo aus der Blick weit über das Land gleitet, errichten die Tugenden einen Friedenstempel und weihen ihn der Eintracht:
[…] scissura domestica turbat
rem populi, titubatque foris, quod dissidet intus.
ergo cauete, uiri, ne sit sententia discors
sensibus in nostris […]15
(V. 756–759)
Innere Ordnung des Selbst wird nach platonischem Vorbild somit auf politische Ordnung übersetzt, die Außen-innen-Differenz des Menschen (foris /intus) zur Frage der öffentlichen Ordnung (res populi) erhoben. Dass diese Ermahnung sich statt an die Tugenden mit größtenteils weiblichem Genus an unbestimmte uiri richtet, unterstreicht an dieser Stelle den externalen Übertragungsanspruch der Psychomachia zusätzlich.
(3.) Rückbindung an den Innenraum. Der Text bleibt bei diesem Schritt der Externalisierung nicht stehen. Denn mit einem Appell an politische Eintracht wendet sich die Ansprache der fides zurück an das Herz: Gott nehme niemandes Gabe an, der insgeheim in unruhigem Herzen seinen Nächsten hasse (inpacati sub pectoris […] antro, V. 772–774). Auch die Beschreibung der Tempelausstattung sucht den Geist nun explizit zurück zum Herz lenken (V. 841: uocat in praecordia sensus). Das Schlussgebet (ab V. 888) schließt den Kreis noch weiter, indem es zur Anthropologie des inneren Widerstreits zurückkehrt. Wie zu Beginn erinnert Prudentius an die Kontamination des Herzens mit Lastern (V. 890: nam cor uitiorum stercore sordet) und fleht die Hilfe Christi für den inneren Kampf herbei. Die narrative Imagination von Sieg und Ordnung, so extrem sie durchgesetzt scheinen, wird damit schließlich auf Streit und Unordnung zurückgestellt, der Außen- in den Innenraum zurückgenommen.
Ergebnis dieses Dreischritts von Internalisierung, Externalisierung und Re-Internalisierung ist eine anthropologische Ordnung, die Selbst- und Fremdreferenz in einer dynamischen Pendelbewegung koordiniert. Die Natur des Menschen wird dadurch keineswegs dauerhaft vereinfacht oder konzeptuell gezähmt, im Gegenteil: die duplex substantia (V. 909) des Menschen wird im Widerstreit umso intensiver erfahrbar. Wenn diese Ordnung vom Herzen / Körper zur Welt umschlägt, knüpft die Erzählung jedoch korrespondierende Bezüge, die das innere Haus mit dem äußeren Heereslager und schließlich mit sozialer Ordnung überhaupt (domestica) metaphorisch verbinden. Ordnung sucht Prudentius damit weniger durch ein bloßes Reduktionsverfahren als vielmehr durch ein dynamisches Wechselspiel von Vereinfachung und Rückkopplung. In dieser Perspektive müssen Unbestimmtheiten und Umkehrungen (von zentralen Begriffen wie Herz und Kerker bis zur Gewaltdarstellung) weniger als Begriffsschwächen, Inkonsistenzen oder gar Widersprüche erscheinen – sie befördern vielmehr die Bewegung dieser Übertragungsverhältnisse.