Wie die folgenden Analysen zu exemplarischen Seelenkampftexten der Spätantike, des Frühmittelalters bis an die Schwelle zum 14. Jahrhundert unterstreichen wollen, verlaufen diese Entwicklungen keineswegs einsträngig oder kommunikationsgeschichtlich linear. Einerseits lassen sich zwischen lateinischen und volkssprachlichen Texten robuste Kontinuitäten ausmachen, die sich gleichermaßen im textübergreifenden Modellcharakter der Psychomachia des Prudentius greifen lassen wie in Übersetzungen einflussreicher Einzelfälle wie der Visio Philiberti,13 die ins Französische, Englische, Italienische, Niederländische und Deutsche führen. Andererseits spiegeln solche Reihen auch markante Umbesetzungen von Wettkampfinstanzen und Wettkampfkonfigurationen sowie Überlagerungen unterschiedlicher Formen, die weit über den Kreis christlicher Anthropologie hinaus greifen. Im Licht beider Perspektiven zeichnet sich damit eine Arbeit am agonalen Erzählen ab, die Kampfformen des Selbst sowohl vervielfältigt als auch mit Leitmodellen und Texttraditionen verbindet. Mit den verschiedenen Beispielen werden zugleich auch unterschiedliche Stoßrichtungen greifbar: Dient Wettkampf zunächst dazu, Ordnung gewaltsam herzustellen und durchzusetzen, so experimentieren Texte des Hochmittelalters umgekehrt damit, mittels Wettkampf gezielt Unordnung zu produzieren und zu sichern. In dieser Spannbreite entwickelt die Erzählliteratur des Mittelalters damit symbolische Ressourcen der Anthropologie und Ethik, die menschliches Handeln in komplexen Spannungslagen zwischen Ordnung und Zerstörung verorten.
Auch diese Spannung wird maßgeblich von antiken Autoren thematisiert. Platon zufolge liegen Psyche und Körper in fortwährendem Kampf. Auch die stoische Ethik betrachtet das menschliche Leben als bios polemos; Marc Aurel etwa empfiehlt, sich durch Gedanken an unverschämte, missgünstige Gegenspieler mental zu trainieren.14 Für die Kulturgeschichte des Widerstreits sind dies aufschlussreiche Belege, insofern antike Seelenkämpfe zumeist Aufstiegsbewegungen anregen, die das Selbst wie auch interpersonale Beziehungen transzendieren und sozusagen auf überindividuelle Außenseiten zielen.15 Allerdings sind diese Außenseiten keineswegs unbestimmt: Statt in Kontingenzräume führen agonale Konzepte und Techniken des Selbst vielmehr zu übergreifender Ordnung – zur Sphäre von Ideen oder in Richtung des kosmischen nous. Wettkampf und Widerstreit sind dafür vor allem als Formen der Rückversicherung relevant, die umgreifende Kontexte und Umwelten erschließen; Streit im Menschen verweist zugleich auf Streitordnungen um den Menschen.
Mit der Psychomachia des Prudentius soll diese Erzählform zuerst an einem Text vorgestellt werden, der eine wirkungsmächtige Brückenposition zwischen Anthropologien der Spätantike und des Mittelalters begründet.16 Noch im 12. Jahrhundert – so ist am Fall der Vorauer Sündenklage zu zeigen – dient Wettkampf einem Transformationsprozess, um problematische Selbstverhältnisse auf externe Konflikte rückzuübersetzen. Genau diese Bearbeitungsrichtung kehren Texte um, die Widerstreit gezielt nach innen lenken. Selbstverhältnisse werden damit nicht nur zum Gegenstand verstärkter räumlicher Differenzierung (wie in der Klage Hartmanns von Aue), sondern auch in ihrer Zeitdimension variabel ausgearbeitet, von temporären Spielräumen der Selbstgegenübersetzung (wie in der Visio Philiberti) bis zur dauerhaften Verstetigung eines Wettkampf-Ich (wie im Welschen Gast des Thomasin von Zerclære).
2.1 Streit um den Menschen (I): Allegorisierung und Externalisierung in der Psychomachia des Prudentius
Vielfalt beginnt, wo Anthropologien der Spätantike und des Mittelalters die Differenz von Körper und Geist als Kampfbeziehung ausleuchten. So betrachtet Prudentius die menschliche Natur als unruhige duplex substantia (V. 909),1 weil der Mensch von innerem Kampf zerrissen werde, der Geist in Gefangenschaft des Körpers liege:
[…] Feruent bella horrida, feruent
ossibus inclusa, fremit et discordibus armis
non simplex natura hominis; nam uiscera limo
effigiata premunt animum, contra ille, sereno
editus adflatu, nigrantis carcere cordis
aestuat, et sordes arta inter uincla recusat.
(V. 902–907)2
Wird Zwiespalt damit als anthropologische Prämisse gesetzt,3 so ist er nicht einfach hinzunehmen, sondern zu überwachen, zu durchleuchten und zu gestalten. In diesem Sinne beginnt die Psychomachia mit einem Aufruf zur militärischen Selbstintervention:
uigilandum in armis pectorum fidelium,
omnemque nostri portionem corporis,
quae capta foedae seruiat libidini,
domi coactis liberandam uiribus
(Praefatio, V. 52–55)4
Christliche Selbstbeobachtung verlangt demnach in platonisch-paulinischer Tradition, Teile und Aspekte des Körpers zu unterscheiden und Kräfte ›im eigenen Haus‹ zu sondieren, um das Irritationspotential sinnlicher Affekte auszuräumen. Wenn Prudentius dazu aufruft, mit Christi Hilfe »aus der Tiefe der Brust« jene Sünden zu vertreiben, die durch innere Unordnung (turbatis sensibus intus seditio) verursacht würden (V. 5–8), so wird damit Selbstbefreiung als umfassendes Ordnungsprogramm proklamiert. Laster und Tugenden werden als Zerstörungsrisiken konfrontiert, die Pflege innerer Ordnung verlangen (V. 11–13).
Der poetische Weg, den die Psychomachia dazu einschlägt, zielt darauf, dieses kriegerische Selbstverhältnis zu figurieren und zu intensivieren. Gestaltungen von Tugenden und Lastern gelte es rhetorisch vor Augen zu führen,5 indem mit ekphrastischen Mitteln nacheinander sieben Duelle bzw. Gruppenkämpfe imaginiert werden: Glaube (fides) überwältigt Polytheismus (cultura deorum, V. 21–39), Keuschheit (pudicitia) das Begehren (libido, V. 40–108), Geduld (patientia) den Zorn (ira, V. 109–177); Hochmut (superbia) bringt sich durch eine übersehene Falle der Hinterlist selbst zu Fall und wird vor den Augen einer ganzen Schlachtreihe mäßigender Tugenden (Gerechtigkeit, Ehrbarkeit, Nüchternheit, Fasten, Scham und Einfachheit) schließlich durch die Demut (mens humilis) niedergestreckt (V. 178–309); Genusssucht (luxuria) wird mitsamt ihrem Gefolge (Scherz, Leichtfertigkeit, Liebe, Prahlerei, Verfeinerung, Zwietracht und Lust) durch die Nüchternheit (sobrietas) vernichtet (V. 310–453); und selbst wenn der Geiz (auaritia), begleitet von daraus entspringenden Übel und Sorgen, den Anschein sparsamer Tugend erweckt, wird er von der Hilfsbereitschaft (operatio) im Verein mit der Vernunft (ratio) getötet (V. 454–628). Verwirrung scheint nahezu ausgeräumt, störte nicht ein letzter Anschlag der Zwietracht (discordia) die Eintracht (concordia) im Feldlager der Tugenden. Durch Zusammenwirken aller Tugenden wird auch dieses letzte Störpotential vereitelt (V. 665–725).
Das dominierende Prozessschema der Selbstimagination liefert somit der Zweikampf. Zunächst dreimal wiederholt, wird die Konfrontation binärer Differenz sodann viermal zu Konfigurationen erweitert, die Haupttugenden bzw. Hauptlaster mit ihren jeweiligen Verbünden zu Schlachtreihen (acies) versammeln. Das zweiseitige Abgrenzungsschema wird dadurch fortgeführt, zugleich aber für interne Cluster- und Reihenbildung geöffnet, was als Antwort auf die Ordnungsprobleme der Vorrede ermöglicht, Tugenden und Laster auszuspinnen und gleichwohl zu binden. Prinzipiell öffnet sich der Kampf damit für Aggregations- und Variationsmöglichkeiten, während er an einfacher Raumdifferenz festhält.
Diese Staffel- und Erweiterungssequenz beschließt das römisch konnotierte Militärbild vom Feldlager der Tugenden, in dem nach Ansprache des Glaubens (fides) ein edelsteingeschmückter Tempel um den Altar des Herzens errichtet wird (ara cordis, V. 844f.). Im imaginierten Außenraum wird damit ein Zentrum der Innenreflexion installiert, das die agonale Wiederholungsschleife nicht nur formal beendet, sondern die Tugenden aus hierarchisierenden Wettkämpfen in eine Anordnung der