Für die Baioarii ergibt sich in diesen Zusammenhängen überzeugend ebenfalls ein Landschaftsname als Bestimmungswort.1 Er entspricht, wie gleichfalls schon oben ausgeführt, dem von Tacitus überlieferten Landschaftsnamen lat. Boi(o)haemum / germ. *Bai(o)haima, der im Stammesnamen durchaus zu Baia verkürzt sein kann, denn nur in diesem Sinn reiht sich dieser in die germanische Gruppe der -varii-Namen ein. Bezüglich der Bedeutung liegt auf der Hand, dass sich das Bestimmungswort nicht auf Böhmen in seinem heutigen Umfang beziehen kann, denn die germanischen Namenträger können dort angesichts der Entfernung von der Donau als römischer Grenze keine Verteidiger ihres Landes gegen die Römer gewesen sein. Als Lösung bietet sich für Rübekeil an, dass der Landschaftsname vom böhmischen Kerngebiet bis gegen die Donau insbesondere nach Westen bis gegen die Raetia secunda ausgedehnt war, so dass die Bewohner der Gebiete nördlich der Donau „Wehrmänner“ gegen die Römer sein konnten. Man kann dann weiters annehmen, dass nach dem Zusammenbruch der Römerherrschaft der Name mit dem verstärkten Eindringen der Germanen aus dem Vorland über die Donau in die ehemaligen römischen Provinzgebiete sich schließlich dort etablierte und zum Namen des Neustammes der Baiern wurde.
1.5.5.2. War Bayern ein ursprüngliches „Boierland?“
Unter dem Einfluss der mit Nachdruck vorgetragenen Thesen der Archäologen, die Baiern seien aus ansässigen Romanen der Raetia secunda hervorgegangen und auch ihr Name habe, wie Arno Rettner linguistisch allerdings unhaltbar meint, eine lateinische Grundlage, versucht nun Ludwig Rübekeil in seinem Beitrag „Der Name Boiovarii und seine typologische Nachbarschaft“ zum Sammelband von 2012 sich soweit wie möglich den Ansichten der Archäologen anzuschließen. Was er als germanistischer Sprachwissenschaftler freilich nicht aufgeben kann und unverändert beibehält, ist die lautgesetzlich unumstößliche germanische Etymologie des Baiernnamens. So setzt Rübekeil nun beim Bestimmungswort des Kompositums an und räumt ein, dass damit auch wie im Ausnahmefall der Chattuarii ein Einwohnername gemeint sein könnte. In diesem Sinn rechnet er nun gemeinsam mit den Archäologen damit, dass bei der Identitätsbildung der Baiern im ehemals provinzialrömischen Raum der Raetia secunda südlich der Donau als Bestimmungswort von Baioarii unmittelbar der Name der Boier herangezogen wurde. Als Grundlage dafür gelten ihm die Namen der Römerkastelle Boiodurum und Boitro in Passau sowie ein in Manching bei Ingolstadt überliefertes boios, das er als Personenname auffasst.
Es ist aber sehr unwahrscheinlich, dass der heutige nieder- und oberbayerische Raum der Raetia secunda jemals mit dem Namen der Boier verbunden war, wofür es auch keine unmittelbaren Zeugnisse gibt. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die angezogenen Römerorte an der Peripherie sowohl des Römerreiches von Süden aus als auch vom Boierland Böhmen von Norden her lagen. Die Halbinsel von Passau, gebildet von Inn und Donau mit der von Norden in die Donau mündenden Ilz, war seit der Mitte des 5. Jhs. v.Chr. von Kelten besiedelt und ein Kreuzungspunkt der Handelswege in alle vier Himmelsrichtungen, die sich in römischer Zeit fortsetzten. Auf ihr lag ein keltisches Oppidum, dessen Name Ptolomaios um die Mitte des 2. Jhs. v.Chr. als Βοιόδουρον bezeugt und dessen Name dann die Römer nach dem Itinerarium Antonini als Boiodurum auf das von ihnen am Ende des 1. Jhs. n.Chr. auf dem rechten Innufer errichtete Kastell und einen sich anschließenden Vicus übertrugen und das bis ins 3. Jh. bestand, ehe es zerstört wurde.1 Während der Ort für die Kelten wohl ein Handelszentrum war und Brückenfunktion für den Warentransport hauptsächlich vom Süden in das Landesinnere in Böhmen im Norden hatte, diente das Kastell den Römern zur Bewachung und Sicherung der Limesstraße an der Donau gegen die Germanen. Die Notitia dignitatum überliefert dann für die 2. Hälfte des 3. Jhs. neben Batavis/Passau ein neuerrichtetes kleines Kastell Boiodoro stromaufwärts ebenfalls am rechten Innufer. Die Vita Severini von 511 nennt es dann Boi(o)-tro, und in seinen Mauern hatte Severin um 470 ein kleines Kloster errichtet. Sein Name lebt im Ortsnamen Beiderwies und im dort vorbei fließenden Beiderwiesbach weiter. Was das auf einem Scherben einer bauchigen Flasche aus dem keltischen Oppidum von Manching bei Ingolststadt des 1. Jhs. v.Chr. eingravierte boios betrifft, so ist es mehrdeutig und nicht, wie Rübekeil annimmt, als Personenname gesichert.2
Obwohl nicht bekannt ist, welche keltischen Stämme zur Zeit der römischen Eroberungen im Alpenvorland um die Zeitenwende westlich des Inns siedelten, während sich östlich des Inns das keltische Königreich Noricum befand, spricht nichts dafür, dass es die keltischen Boier gewesen wären. Hätte das heutige Nieder- und Oberbayern damals einen mit dem Namen der Boier verbundenen Gebietsnamen getragen oder wären dort die Boier beheimatet gewesen, so hätten ihn die Römer gewiss wie jenen des benachbarten Noricum übernommen, was jedoch nicht geschah. Auf die offenbar namenlose Gegend dehnten sie daher vom Bodensee her den Namen der Räter nach Nordosten bis zur Donau aus. Das keltische Boioduron/Passau war zweifellos ein unterhaltener südlicher Außenposten der Boier als Handelsort. Wenn seinen Namen die Römer fortsetzten, kann dies ebensowenig wie die Gravur von Manching als Beweis für ein einstiges „Boierland“ Bayern dienen.3 Während Rübekeils Erkenntnis, der germanische Baiernname gehört zu einer germanischen Namengruppe im germanisch/römischen Grenzland und bezeichnet germanische Wehrmänner, die das germanische Land vor Übergriffen der Römer schützen und verteidigen und die daher im germanischen Gebiet nördlich des Römerreiches und des Donaulimes beheimatet waren, weiterführt, geht Rübekeils Versuch, sich der Meinung der Archäologen anzuschließen, in die Irre.
1.5.5.3. Die Baiern in neuer historischer Sicht
Auffallend reserviert verhalten sich die Mittelalterhistoriker gegenüber den neuen Ansichten zur Identitätsbildung der Baiern. So nennt der Erlanger Frühmittelalterforscher Guido M. Berndt in seiner Besprechung des Sammelbandes „Die Anfänge Bayerns“ von Fehr/Heitmeier bloß die Themen der einzelnen Beiträge, wenn er hinsichtlich der Romanentheorie der Archäologen zur Herkunft der Baiern auch gewisse Auffassungsunterschiede zwischen ihren Vertretern Arno Rettner, Hubert Fehr und Jürgen Haberstroh erkennen möchte.1 Ausführlich befasst sich zwar der Wiener Mittelalterhistoriker Herwig Wolfram in seinem Rezensionsaufsatz „Die Anfänge Bayerns im Zwielicht“ mit einzelnen Beiträgen, geht aber mit keinem Wort weder auf die Romanentheorie der Archäologen noch auf die noch vorzustellende Norikertheorie der Historikerin Irmtraut Heitmeier ein. Dass für Wolfram aber der Name der Baiern mit den Boiern und Böhmen zu tun hat, wird deutlich an der mit brieflicher Unterstützung von Wolfgang Haubrichs (Saarbrücken) und Hermann Reichert (Wien) ausführlich dargelegten Analyse der Slawenbezeichnung Beovinidi in der „Historia Langobardorum Codicis Gothani“. Diese entstand 807/10 in Oberitalien im Zusammenhang mit dem Frankenkönig Pippin von Italien, nachdem dieser 806/07 die Mauren von Korsika vertrieben und zuvor 798 an einem verwüstenden Feldzug gegen die böhmischen Slawen teilgenommen hatte. In den gegen 860 abgeschlossenen sogenannten „Annales Xantenses“, die Gerward, der ehemalige Pfalzbibliothekar Ludwigs des Frommen in den Jahren 814-30, anlegte, werden sie Beuwinitha geschrieben. Dieses ist niederfränkisch und entspricht der Herkunft Gerwards vom Niederrhein oder aus Friesland, wo germ. ai zu ē monophthongiert und der stimmhafte Spirant germ. đ als th beibehalten wird. Das aber bestätigt das Erstglied des Baiernnamens germ. *Baiowarjōz, der in Verbindung mit den Beovinidi auf Böhmen bezogen werden kann und somit als Klammerform *Baio[haima]warjōz zu verstehen ist, so dass der Name der Baiern „ursprünglich tatsächlich ‚Leute aus Böhmen’ bedeutet“.2 Wenn die Schreibung Beovinidi auch im Codex Gothanus auftritt, so ist zu bedenken, dass er dem fränkischen Umkreis König Pippins angehört und in diesem Namen wohl auch dort fränkisches ē für germ. ai galt.3 Damit hält Wolfram an der von der Sprachwissenschaft vorgetragenen Erklärung des Baiernnamens fest und erteilt somit indirekt sowohl der Romanentheorie als auch der Norikertheorie eine Absage. Wenn ich recht sehe, haben die verschiedenen Beiträge von Arno Rettner und Hubert Fehr zur Herkunft der Baiern auch sonst bei Historikern kein Echo ausgelöst. Dafür beschreitet nun Irmtraut Heitmeier in ihrem umfänglichen Beitrag zum Sammelband „Die spätantiken Wurzeln der bairischen