1.6. Zusammenfassung des neueren Forschungsstandes
Der aktuelle Forschungsstand zur Herkunft und zum Namen der Baiern seitens der daran beteiligten Disziplinen der Archäologie, der Sprachwissenschaft und der Geschichtswissenschaft bietet ein heterogenes Bild, wobei man vor allem eine gegenseitige Berücksichtigung der Fachmeinungen und eine echte Diskussion vermisst. Dabei wird das in den 1970-80er Jahren erzielte, weitgehend übereinstimmende Bild, wie es 1988 die Baiernausstellung in Mattsee und Rosenheim zusammenfassend darlegte, großteils, wenn auch nicht von allen Disziplinen und ihren einzelnen Forschern, in Frage gestellt und werden neue Ansichten vorgetragen. Im Einzelnen ist festzuhalten:
Die Archäologie stellt eine Einwanderung elbgermanischer Gruppen in die Raetia secunda, das heutige Bayern, was in erster Linie anhand des übereinstimmenden Keramiktypus von Přešt’ovice – Friedenhain nachzuweisen versucht worden war, völlig in Frage, weil diese Keramik, wenn auch in Variation überall verbreitet sei. Während man damals in den Reihengräbern zu beiden Seiten des Limes trotz nördlicher Brandbestattung und südlicher Körperbestattung Übereinstimmungen in den Beigabensitten erkannte, wird nun die Verschiedenheit hervorgehoben.
Daraus wird nun seitens der Archäologie der Schluss gezogen, die Identitätsbildung der Baiern – der neue Terminus statt bisherigem Ethnogenese – sei auf dem römischen Boden der Raetia secunda durch die bodenständige romanische Bevölkerung und ohne zugewanderte germanische Gruppen von jenseits des Limes erfolgt, wofür es auch keinerlei schriftliche Zeugnisse gibt. Die Frage, wieso sich dann nicht das Romanische etabliert, sondern die germanisch-deutsche Sprache durchgesetzt hat, wird weder gestellt noch erwogen.
Eine Bestätigung dieser „Romanentheorie“ von der Herkunft der Baiern sieht die Archäologie einerseits in der Tradierung und Integrierung antik-romanischer Gewässer- und insbesondere Siedlungsnamen in der Raetia secunda und andererseits in den auf das Fortleben von Romanen verweisenden deutschen Walchen- und Parschalken-Namen als auch in den zahlreichen deutsch gebildeten Mischnamen mit einem romanischen Personennamen und einer deutschen Ableitung oder häufiger als Kompositum mit einem deutschen Grundwort.
Seitens eines Teils der Vertreter der Namenkunde wird dargelegt, dass vor allem im voralpinen Raum der Raetia secunda des heutigen Ober- und Niederbayerns im Gegensatz zu Ufernoricum des heutigen Ober- und Niederösterreichs, von der Umgebung Salzburgs abgesehen, die Romanen über das Ende des weströmischen Reiches 476 hinaus zahlreich weiterlebten, was aus den vom 8.–10. Jh. überlieferten romanischen Personennamen gefolgert wird, wenn sich an diesen auch zunehmend bair.-ahd. Lauterscheinungen als Ausdruck ihrer Integrierung abzeichnen. Das lässt allerdings bezweifeln, ob die Träger solcher angepasster Personennamen romanischer Herkunft noch wirklich Romanen waren und romanisch sprachen.
Beides – archäologische Beurteilungen sowie tradierte antik-romanische Gewässer- und Siedlungsnamen und romanische Personennamen – führt dazu, dass seitens der Archäologie und im Anschluss vereinzelt auch von einem Namenforscher versucht wird, den Namen der Baiern aus dem Romanischen abzuleiten. Das aber scheitert an der Nichtberücksichtigung der von der germanistischen Sprachwissenschaft längst erkannten gesetzlichen und nicht willkürlichen Wortbildung und ebensolchen Lautentwicklungen, so dass sich derartige konstruierte Herleitungen als unwissenschaftliche Volksetymologien erweisen.
Die germanistische Sprachwissenschaft sieht keine andere Möglichkeit als an der schon im 19. Jh. richtig vorgetragenen lautgesetzlichen Etymologie des Baiernnamens als (ur)germ. Sg. *Baiowarjaz / Pl. *Baiowarjōz (lat. Baiovarius / Baiovarii), zu Beginn des 6. Jhs. westgerm. *Baiawari / *Baiawarja festzuhalten, wenn das Bestimmungswort Bai- dieses gereihten Kompositums teilweise auch anders zu interpretieren versucht wurde als vom größeren Teil der Linguisten und Historiker in Verbindung mit dem auf die Boier zurückgehenden Namen Böhmens als lat. Boi(o)haemum / germ. *Baihaim / bair.-ahd. und mhd. Pēheim. Davon leitet sich die „Böhmentheorie“ der Herkunft der Baiern aus Böhmen – freilich nicht im Sinn der Grenzen des ehemaligen Königreiches Böhmen bzw. des heutigen Tschechiens – ab.
Unter Beibehaltung der germanistischen Herleitung des Baiernnamens von Böhmen wird seitens der Geschichtswissenschaft nun zur Erklärung der Herkunft der Baiern die zu beobachtende teilweise Bezeichnung von Bayern und damit der einstigen Raetia secunda als Noricum vom 8.–12. Jh. eingebracht. Daraus wird gefolgert, dass die Ethnogenese der Baiern in Ufernoricum, dem heutigen Nieder- und Oberösterreich, erfolgt ist, indem eine elbgermanische, von den südostwärts ziehenden Langobarden abzweigende Gruppe angesichts der Zughörigkeit von Noricum zur oströmisch-byzantinischen Reichshälfte nach der Auflösung Westroms 476 vom oströmischen Kaiser unter Vertrag genommen wurde, um die Westflanke seines Reiches als Wehrmänner gegen die ständigen Germaneneinfälle abzusichern. Diese Wehrmänner wurden mit dem Namen ihres Herkunftsgebietes als germ. *Baiowarjōz / lat. Baiovarii bezeichnet. Mit der Bildung des bairischen Herzogtums und der Einsetzung von Herzog Garibald nach 535 von Westen her durch die Franken war es seine Aufgabe, beide Gebietsteile zu vereinigen, und damit dehnte sich der Baiernname und mit ihm die Gebietsbezeichnung Noricum nach Westen in die ehemalige Raetia secunda aus.
Bezüglich der Herkunft des Baiernnamens und der Identitätsbildung der Baiern stehen sich die „Böhmen-“, die „Romanen-“ und die „Norikertheorie“ gegenüber, die in allen drei beteiligten Disziplinen, der Sprachwissenschaft, der Archäologie und der Geschichtswissenschaft, jeweils Vertreter haben.
Angesichts der heutigen Hervorhebung, ja Überbetonung des zweifellos über das Ende des Römerreiches 476 hinaus gebietsweise unterschiedlich langen Weiterlebens von Romanen im Alpenvorland der Raetia secunda und im westlichen Noricum vom oberbayerischen Lech bis zur oberösterreichischen Enns als des Entstehungsraumes der Baiern und ihres frühmittelalterlichen Herzogtums halten wir es für angebracht, die als Beweis für die Kontinuität herangezogenen Gewässer- und Siedlungsnamen antik-romanischer Herkunft systematisch zusammenzustellen und ebenso auf Stichhaltigkeit zu überprüfen wie die deutsch gebildeten Mischnamen mit einem als romanisch angesehenen Personennamen. Wann der Großteil dieser Gewässer- und Siedlungsnamen antik-romanischer Herkunft und Etymologie spätestens ins Bairisch-Althochdeutsche oder sogar erst ins Mittelhochdeutsche integriert wurde, lässt sich größtenteils mit Hilfe der Chronologie der zeitlich unterschiedlich eingetretenen und verschieden lange wirksamen germanischen, bairisch-alt- und mittelhochdeutschen Lautwandlungen und Lautsubstitutionen von den ersten Jahrhunderten n.Chr. bis ins 12. Jh. datieren. Spätestens ab dem Beginn eines einschlägigen Lautwandels muss ein davon betroffener Name integriert worden sein. Auf diese Weise wird sich ein annäherndes Bild ergeben, wann in welchen Kleinräumen die Baiern auftraten und die antik-romanischen Namen in ihre Sprache aufnahmen und sie sich dann in dieser fortentwickelten. Um nicht den Eindruck zu erwecken, die germanistische Sprachwissenschaft arbeite quasi mit Zaubermitteln, die vor allem Fachfremde meist nicht nachzuvollziehen vermögen, werden die angewandten sprachhistorischen Kriterien und die ungefähren Datierungen