Die hier gegebenen Beispiele für potentiellen Transfer und potentielle Interferenzen ausgehend von Sprachkompetenzen in einer L1 sollen zweierlei verdeutlichen. Erstens: Der Blick auf Spracherwerbsphänomene in einer mehrsprachigen Konstellation erfordert linguistisches Wissen, damit spezifische Phänomene angemessen und wertfrei beschreibbar sind. Sie verdeutlichen zweitens, dass in jeder Sprachenkonstellation Erwerbsprozesse Entwicklungsprozesse sind, die unterstützt und ausgebaut werden können, insofern bei den unterstützenden Personen – Lehrkräften in unserem Fall – das dafür nötige Wissen vorhanden ist.
Erwerbs- und Lernstrategien
L2-Lernende verfügen über eine Reihe von Strategien, mit denen sie selbst ihren eigenen Erwerbsprozess kreativ stützen und dabei Hypothesen über die möglichen Regularien der neuen Sprache bilden (Rösch 2005; Tracy 2007). Zu diesen gehören z.B. die Über- oder Unterspezifizierung von Wortbedeutungen, kreative Wortschöpfungen, die Übergeneralisierung von bereits erworbenen grammatischen Regeln (*ich habe geesst, *ich schreibte) oder auch das Vermeiden von schwierigen Strukturen. Nicht immer sind die bekannten und angewandten Strategien diejenigen, die zum größten Erfolg führen. Eher kognitive, direkte Strategien dienen der Arbeit mit dem sprachlichen Material selbst. So können mentale und sprachliche Bezüge durch Mind-Maps er- und verarbeitet werden und das Erlernen neuen Wortschatzes kann besser in Form von festen Wendungen, Chunks und Wortgruppen als isoliert erfolgen. Indirekte, metakognitive Lernstrategien dienen dazu, den Sprachlernprozess zu steuern, Zeit für konzentriertes Lernen zu schaffen, sich realistische Lernziele zu setzen und den Lernprozess daraufhin zu planen, umzusetzen und selbst zu evaluieren. Es ist daher sinnvoll, auch über die explizite und implizite Verwendung und das Training von Sprachlernstrategien den Lernenden weitere Mittel zur Selbsthilfe mitzugeben und so insgesamt zu einer größeren Autonomie der Lernenden beizutragen (vgl. knapp dazu auch Huneke/Steinig 2013, 27f.).
Spracherwerbsstufen
Neben dem Einfluss, den verschiedene Erstsprachen auf den Erwerb des Deutschen als L2 haben können (aber nicht müssen) sowie den Strategien, die Lernende verwenden, um sich selbst beim Spracherwerb zu unterstützen, gehören zu den wissenswerten Aspekten von Spracherwerb auch Kenntnisse über typische Erwerbsverläufe. In der bereits angeführten Studie von Clahsen/Meisel/Pienemann (1983) wurden die Grundlagen für heute immer noch geltende Erwerbstufen gelegt, die wiederum die Grundlage für das diagnostische Verfahren der Profilanalyse sind. Diese und andere Studien haben eine relativ feste Abfolge im Erwerb syntaktischer Strukturen ergeben. So verläuft der Erwerb angefangen bei bruchstückhaften Äußerungen über Sätze mit finitem, also konjugiertem (gebeugtem) Verb an der zweiten syntaktischen Position über Sätze mit separierten, also getrennten Prädikatsteilen bis hin zu Sätzen, in denen eine Inversion zu Beginn des Satzes realisiert wird.
Unter Rückgriff auf Grießhaber (2017) lassen sich diese Stufen des Erwerbs spezifischer syntaktischer Strukturen im Deutschen wie folgt abbilden und u.a. für Sprachstandsdiagnosen nach der Profilanalyse nutzen (vgl. auch Rösch 2011, 25):
Stufe 0 = bruchstückhafte Äußerungen ohne finites Verb: anziehen ja / danke
Stufe 1 = finites Verb in einfachen Äußerungen: Ich versteh. / Nazan geht ins Kino.
Stufe 2 = Separierung finiter und infiniter Verbteile: Und ich habe dann geweint. / Esra fährt morgen weg.
Stufe 3 = Inversion von Subjekt und finitem Verb nach vorangestelltem Adverbial: Dann geht sie nach Hause. / Jetzt brennt die.
Stufe 4 = Nebensätze mit finitem Verb in Endstellung: …, dass sie so groß ist.
Die Kenntnis grundlegender Theorien des Zweitspracherwerbs und ausgewählter Einzelaspekte seines Verlaufs erlaubt auch für den geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Fachunterricht der Sekundarstufen darüber zu reflektieren, welche Wege spracherwerblich begründet zur Unterstützung der individuellen (bildungs)sprachlichen Entwicklung im Unterricht gegangen werden können. Zusammenfassend ist es für Fachlehrkräfte wichtig,
ein Gespür zu entwickeln für die Prozesse des DaZ-Erwerbs, in denen sich einzelne mehrsprachige Schüler*innen in schulischen Kontexten und darüber hinaus befinden,
ein dementsprechend prozesshaftes Verständnis von Fehlern zu entwickeln und neben sprachlichen Korrekturen systematisch sprachliche Hilfen (scaffolds) zu erarbeiten und
die unterstützende Bedeutung von Erstsprachkompetenzen sowie von weiteren, zuvor gelernten Sprachen einschätzen zu können und diese nicht allein als Schwierigkeit, sondern auch als Ressource zu verstehen.
1.6 Beschreibungsansätze für Sprache(n) in der Schule
Nachdem bisher vor allem der gesellschaftliche und schulische Rahmen für die weiteren Ausführungen zur fachintegrierten Sprachförderung (DaZ) und Sprachbildung im Kontext sprachlicher Heterogenität als Normalfall abgesteckt wurde, wird nun das Themenfeld ‚Sprache(n) in der Schule‘ einführend in seinen zentralen Konzepten und Herausforderungen dargestellt.
Schulisches Lernen besteht zu einem hohen Anteil aus dem Lesen und Schreiben von überwiegend bildungs- und fachsprachlichen Texten sowie aus dem weiterführenden Umgang mit schriftlich fixierten Informationen, also dem Sprechen und Schreiben in Auseinandersetzung mit Texten. Daher ist es notwendig, den schrift- und bildungssprachlichen Anteilen und Anforderungen des schulischen Lernens eine hohe Aufmerksamkeit zu gewähren, wie dies in diversen aktuellen wissenschaftlichen und praxisorientierten Publikationen geschieht (z.B. Ahrenholz 2010; Ahrenholz/Hövelbrinks/Schmellentin 2017; Becker-Mrotzek et al. 2013; Benholz/Frank/Gürsoy 2015; Michalak/Lemke/Goeke 2015).
Die Begriffe ‚Bildungssprache‘ und ‚Fachsprache‘ deuten auf abgrenzbare Konzepte von Sprache hin, die sich von einem alltäglichen Sprachgebrauch unterscheiden. Eine erste Annäherung an mögliche Unterschiede liefert das folgende Beispiel, das als Seminaraktivität in Seminaren zum Thema DaZ/Sprachbildung mit Lehramtsstudierenden durchgeführt wurde.
In einem Seminar zur sprachlichen Bildung in den Fächern stellt die Dozentin einer Gruppe von Lehramtsstudierenden die folgende geteilte Aufgabe. Ziel der Aufgabe ist es, für unterschiedliche Varianten des Sprachgebrauchs zu sensibilisieren. Die Studierenden erhalten den Auftrag, ihre Lösungsvorschläge online in ein Seminarwiki zu posten.
Gruppe A: Stellen Sie sich vor, Sie hätten die Aufgabe, einem 10-jährigen Kind zu erklären, was unter ‚Bildungssprache‘ zu verstehen ist. Was sagen Sie? Antwort: „Also, Bildungssprache, das ist die Sprache, die du in der Schule benutzt. Nicht die Sprache, mit der du auf dem Schulhof mit deinen Freunden und Freundinnen sprichst, sondern die, in der die Schulbücher geschrieben sind. Da findest du ja oft Wörter, die du sonst nicht benutzen würdest und manchmal sind die Sätze auch ganz schön lang, oder? Aber Bildungssprache kann man auch sprechen. Zum Beispiel, wenn du einen Vortrag in Sachunterricht über das Sonnensystem hältst. Dann redest du ja auch anders, als wenn du mit deinem Freund spielst.“
Gruppe B: Stellen Sie sich vor, Sie müssten in einem Referat den Begriff ‚Alltagssprache‘ definieren. Was sagen Sie? Antwort: „Als Alltagssprache