Die Erweiterung des Modells von Wertheimer
Zwischenzeitlich wurden im Rahmen der allgemeinen Gestaltbewegung beachtliche Anstrengungen unternommen, die immer noch vorherrschende Assoziationstheorie oder Wundt-Schule zu untergraben (Petermann 1932). Nehmen wir beispielsweise die scheinbar einfache Frage der subjektiven Wahrnehmung von Farben. Falls es jemals einen Bereich hätte geben können, in dem die reine Assoziationstheorie eine vollständige Erklärung hätte anbieten können, wäre es dieser gewesen. Das heißt, dass Farbe, weiße Beleuchtung vorausgesetzt, eine Qualität hätte sein müssen, die »rein« im Reizobjekt, falls es so etwas gibt, hätte vorhanden sein müssen. Außerdem ist die Lichtfrequenz leicht durch ein Spektrometer messbar. Im Falle von Weiß und Schwarz sollte die Reflexion oder Absorption des Lichtes durch das Reizobjekt gleichfalls objektiv messbar sein. Mit anderen Worten, wir »wissen« durch das Maß an Licht, das davon zurückgestrahlt wird und die Retina berührt, dass ein weißes Objekt weiß ist – und das gleiche gilt für das schwarze Objekt.
Eine ganze Reihe von Experimenten durch Katz, Gelb und andere zeigte jedoch, dass dies keineswegs der Fall ist – oder zumindest längst nicht so eindeutig, wie es das Assoziationsmodell vorherzusagen schien (Katz 1911; Gelb & Goldstein 1920; erörtert in Koffka 1935). Betrachten wir beispielsweise die Reihe, die als »Experimente mit dem weißen Tischtuch« bekannt ist (Koffka 1935, 110ff, 240ff). Den Versuchspersonen wurden zwei verschiedene Szenen gezeigt, entweder nebeneinander oder in Reihe. In dem einen Experiment erscheinen ein weißes Tischtuch und verschiedene andere Objekte darauf und drum herum. Im anderen ist die Szene die gleiche, nur dass das weiße Tischtuch durch ein schwarzes ersetzt wurde. Die Beleuchtung der beiden Szenen wird dann so verändert, dass das Maß an Licht, das von dem schwarzen Tischtuch abgestrahlt wird, tatsächlich größer ist als das Maß, das das weiße Tischuch abstrahlt. Mit anderen Worten: Eine Szene ist hell erleuchtet, die andere nur schwach beleuchtet. Und doch hatten, was gar nicht überraschte, die Versuchspersonen absolut keine Schwierigkeit zu erkennen, dass das weiße Tischtuch wirklich weiß und das schwarze schwarz war, und dies trotz der Tatsache, dass das schwarze Tischtuch tatsächlich dem »unmittelbaren Reiz« zufolge »weißer« war als das weiße und umgekehrt. Soviel zur direkten Entsprechung grundlegender, unmittelbarer Reize zu ihren zusammengesetzten Wahrnehmungseffekten. Aber was geht hier vor? Wie gelingt es der Versuchsperson, dieses »korrekte« Urteil in offenkundiger Zurückweisung der vorgegebenen Reiz-Bedingungen zu fällen? Offensichtlich ist da eine Art von Selektion und Organisation von Zeichen des »ganzen Feldes« am Werk, durch die die Versuchsperson zu einem relativierenden Urteil von Weiße gelangt, das auf den Beleuchtungsunterschieden verschiedener anderer »Bezugsreize« innerhalb der gleichen Szene gründet. In Koffkas damaligen Begriffen (1935, 250) konstruiert und nutzt die Versuchsperson eine »Gestalt«, die einen »Farbgradienten« einschließt, um das Wahrnehmungs-Urteil zu fällen – eine Interpretation, die sicherlich innerhalb des »Geistes der Gestalt« liegt, mit einer Betonung auf der Organisation der Wahrnehmung, die aber gleichzeitig den Begriff »Gestalt« in ganz anderer Weise verwendet, als es bis dahin üblich war – und eine Interpretation, die der aktiven, selektiven Rolle der Versuchsperson sehr viel mehr Bedeutung beimisst, als es zur damaligen Zeit nach dem Modell Wertheimers möglich gewesen wäre.
Und tatsächlich ist diese Art von kleinem oder auch wieder gar nicht so kleinem Sprung ohne jegliche Erklärung charakteristisch für das erste Jahrzehnt der Gestaltforschung. Es ist also keineswegs klar, dass das ursprüngliche Phi-Phänomen – die Integration getrennter »Empfindungen« in einem einheitlichen Wahrnehmungserlebnis – das gleiche ist wie die Auf lösung statischer visueller Reize im optischen Feld; der ursprüngliche Phi-Faktor scheint übrigens auch nicht aus Wertheimers frühen Experimenten mit dem Stroboskop zu folgen, die sich auf den Eindruck von Bewegung bei Reizen bezogen, die tatsächlich getrennt und stationär waren, während das Phi-Phänomen sich auf den gegenteiligen Fall zu beziehen schien. Die selektive Verwendung von verstreuten Zeichen im Feld wie bei den Tischtuch-Experimenten zur Erreichung eines besonderen Wahrnehmungs-Urteils ist offensichtlich auch nicht der gleiche Prozess wie derjenige, durch den die Figur sich aus einem stationären Grund in einem visuellen oder auditiven Feld »heraushebt«. In all diesen Fällen spielt sicherlich irgendeine Form oder ein Akt der Organisation mit. Nicht so klar ist, ob die Form in allen Fällen die gleiche ist, oder ob die Begriffe »Figur« und »Grund« in sinnvoller Weise für sie alle stehen können. Dieser Punkt wird in den folgenden Kapiteln noch bedeutsamer werden, wenn wir die Erweiterung dieser Konzepte auf die Persönlichkeitstheorie und Psychotherapie erörtern. Damals jedenfalls blieben Sprünge dieser Art bei den Versuchen der frühen Gestalttheoretiker, die Konsequenzen des neuen Paradigmas zu erweitern, unbemerkt – und übrigens auch auf Seiten der Kritiker bei den entsprechenden Versuchen, das neue Modell völlig vom Tisch zu wischen (vgl. Goldstein 1939 und Petermann 1932, mit Überblicken über die spätere Kritik dieser frühen Arbeit).
Nicht etwa, dass die Assoziationstheoretiker keine Antworten auf Fragen wie diese nach der Wahrnehmungsorganisation und dem Urteil gehabt hätten. Wie bereits oben angedeutet ist die Antwort, allgemein gesagt, Erfahrung (oder wie wir wahrscheinlich heute sagen würden, Lernen – vgl. beispielsweise Koffka 1915; und Köhler 1925). Zweifellos, so lautete die Antwort der Assoziationstheoretiker, zeigen Menschen alle diese interessanten und komplexen Prozesse; zweifellos neigen sie dazu, Bilder in Figur und Grund aufzuteilen, kontinuierliche Bewegung da zu sehen, wo keine ist, und vice versa, trickreiche optische Illusionen zu lösen und sogar komplexe Urteile über Farbe, Größe, Identität usw. zu fällen. Aber all dies sind gelernte Prozesse – oder betreffen den Komplex sekundärer Erweiterungen erlernter Prozesse (die wahrscheinlich immer noch durch reine Assoziation zusammenhängender Reize und Rezeptoren aufgebaut werden) –, und auf diese Weise widerlegen sie in keiner Weise die grundlegende Position der Assoziationstheorie, dass nämlich die Wahrnehmungs-/Kognitionserfahrung letztlich Stück für Stück auf einheitliche äußere Reize reduzierbar ist. Deshalb wurde es sehr wichtig für Gestalttheoretiker zu versuchen, Experi mente zu entwickeln, mit denen sie nachweisen konnten, dass einige komplexe Prozesse wenigstens »vorstrukturiert« oder im Organismus »enthalten« oder angeboren, und nicht lediglich das Resultat von Lernen (d.h. nicht vollständig auf äußere Reize reduzierbar) wären. Insbesondere Köhler war fasziniert von diesem Problem, das keineswegs leicht auf empirische Weise lösbar ist. Trotzdem kam er der Sache wenigstens in einer Reihe von Experimenten ganz nahe. Sie waren einfallsreich und so erschöpfend und typisch »Gestalt«, dass es sich lohnt, sie hier noch einmal genau anzuschauen; und sie waren für die allgemeine Psychologie in jener Zeit so verblüffend, dass sie mehrmals wiederholt werden mussten, bis die Ergebnisse allgemein akzeptiert wurden (Koffka 1935).
Das Problem war folgendes: Wir alle wissen, dass Dinge, die weiter weg sind, kleiner erscheinen – das heißt, sie präsentieren ein kleineres Bild auf der Retina – als die gleichen oder ähnliche Dinge in der Nähe. Dennoch haben wir wegen einer Reihe von Schlüsseln aus der Umgebung oder von innen (einschließlich beispielsweise Schärfe und Parallaxe) im großen und ganzen wenige oder gar keine Schwierigkeiten zu unterscheiden, welche Dinge in Wirklichkeit größer und welche lediglich näher