Steinschlag. Emil Zopfi . Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Emil Zopfi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783857919510
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Baumberger?»

      «Sozusagen das Gegenteil. Ein alter Kunde.»

      «Des Zementwerks?»

      «Nein, von mir. Von meiner Firma.»

      «Was meinst du damit?»

      «Amtsgeheimnis. Verstehst du?»

      «Verstehe, Herr Kommissar», sagte Andrea. «Ruf morgen früh an. Wir können zusammen zur Unfallstelle wandern. Was willst du überhaupt dort oben?»

      «Es war kein Unfall!», schrie er ins Telefon. «Eine Untersuchung läuft!»

      «Und da willst du auch noch mitmischen? Hast du überhaupt Wanderschuhe?»

      «Irgendwo auf dem Estrich. Ich hoffe, sie passen mir noch.»

      «Fett setzt ja bekanntlich nicht an den Füssen an. Aber bist du auch noch fit? Wir werden über eine Stunde brauchen.»

      «Früher musste ich doch auch immer mit …» Seine Stimme stockte. «Ich rufe morgen an.»

      Andrea legte den Schraubenzieher weg, mit dem sie während des Gesprächs auf den Schreibtisch getrommelt hatte. Ihre Hand war feucht. «Früher musste ich doch auch immer mit …» Der Satz hatte sie getroffen. Früher. Er hatte die Wanderungen gehasst, er verabscheute die Berge. Doch tat er Mutter den Gefallen. Sie war in Pratt aufgewachsen, hatte sich nie heimisch gefühlt in der Stadt. «Wie eine Bergdohle im Käfig», sagte sie manchmal.

      Wenn sie wanderten, trug sie den Rucksack und ging immer mit leichtem Schritt voran, als habe er überhaupt kein Gewicht. Vater keuchte hinterher, Schweissperlen auf der Glatze. «Du trägst den Rucksack, ich die Verantwortung», war einer seiner Sprüche gewesen. Oft blieb er dann irgendwo sitzen, rauchte, ass den Proviant auf und trank die Feldflasche leer, während sie und Mutter einen Gipfel bestiegen. Wenn sie noch leben würde, stellte sich Andrea vor, würde sie bestimmt klettern, sich durch Felswände führen lassen von ihrer Tochter, stolz auf ihre Bergführerin. Sie würden auf dem Gipfel sitzen an der Sonne, die Bergdohlen füttern, sich ohne Worte nahe und glücklich sein.

      8

      Der Zeitungskiosk am Bahnhof war schon geschlossen. Auf einer Mauer sassen ein paar Burschen, kifften und soffen Bier aus Büchsen. Sie gafften ihr nach, einer liess den Motor seines Mofas aufheulen, drehte eine Runde auf dem Platz. Ein Gockel mit gestutzten Flügeln, der nicht weiss, was fliegen heisst. Pratt war eine enge Welt. «Beyond nowhere», wie man in Amerika sagte.

      Beim «Adler» an der Bahnhofstrasse blieb sie stehen. Hier trafen sich die Bergführer am Stammtisch. «Lass dich doch mal am Stamm blicken», hatte Amstad hingeworfen nach der Bergung. Sie hatte es als Einladung verstanden. Es brauchte Überwindung, die Sandsteinstufen hinaufzusteigen und einzutreten. Sie musste sich konzentrieren, alle Widerstände beiseite schieben und nur das Ziel ins Auge fassen wie vor einer schwierigen Kletterstelle.

      Zigarettenqualm vernebelte die Gaststube, im Zwielicht erkannte sie Amstad an seiner gebückten Haltung, obwohl er ihr den Rücken zudrehte. Er sass in einer Nische am runden Tisch, zusammen mit Rolf Frick und Paul Gisler von der Kletterschule. Andrea machte die Runde, drückte allen die Hand, setzte sich.

      «Schön, dass du kommst», murmelte Amstad. «Ein Bier?»

      «Danke. Ein Cola.»

      «Ah, keinen Alkohol», warf Frick hin. «Nicht gut für den Sport, was?»

      «Nein», stiess Andrea trotzig hervor, wäre am liebsten gleich wieder aufgestanden. Sie glaubte den Neid zu hören in der Stimme des Führers. Neid und Missgunst. Sie hatte sich bei Kletterwettkämpfen einen Namen gemacht, hatte in Kalifornien Big Walls geklettert, von denen diese Männer nur träumen konnten. Sie hatte einen Gast auf die Sila geführt, auf einer Route, welche die beiden Jungen vielleicht noch mit knapper Not schafften. Sport war für die ansässigen Bergführer ein Schimpfwort, sie hielten sich für etwas Edleres als Sportler oder Sporttrainer. Alle drei trugen das Führerabzeichen am Hemd.

      «Wie wars denn an der Sila?», hakte Gisler nach, «mit dem Herrn Doktor?»

      Es klang, als sei ihm Daniel kein Unbekannter, als kreisten auch über ihn Gerüchte. Natürlich wussten die drei mehr als sie. Nichts blieb verborgen im Ort, der kein richtiges Dorf mehr war, aber auch keine Stadt. Jenseits von Nirgendwo eben. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, nach Pratt zu ziehen, zu versuchen, in der Heimat ihrer Mutter Fuss zu fassen, als Frau in einem Beruf, in dem die Machos regierten.

      «Daniel Meyer ist ein starker Kletterer», sagte sie. «Er hat die Route gekannt.»

      «Aber gewiss.» Gisler nahm einen Schluck, wischte sich Bierschaum vom Schnurrbart. «Wir mussten ihn mal herunterholen von dort oben. Hat Mist gebaut und ist beinahe draufgegangen.»

      «War ein Freak, frech und völlig unerfahren. Ist eingestiegen zusammen mit einem, den er nicht einmal gekannt hat. Wetterumschlag, Nebel, Steinschlag. Sie kletterten weiter auf die Plattenburg, fanden den Abstieg nicht mehr. Als wir sie holten, schneite es schon. Halb erfroren war der Junge.»

      «Es ist keine Kunst, auf einen Berg zu klettern. Kunst ist, wieder heil herunterzukommen», bemerkte Frick.

      Andrea trank ihr Cola lustlos, hörte stumm zu, wie die Führer alte Geschichten auftischten. Anekdoten, in denen sie stets die Helden waren, besonnen und mutig. Helfer und Retter, Könige der Berge. Fehler machten nur die andern. Sie schwatzten, bloss Amstad saugte stumm an einem Stumpen. Einmal schnippte er die Asche in den Aschenbecher, beugte sich zu Andrea: «Wir müssen nochmals hinauf zusammen.»

      «Warum?»

      «Es gibt einen Augenschein. Mit dem Untersuchungsrichter.»

      «Und da muss ich mit?»

      «Als Zeugin. Du und ich waren zuerst am Unfallort.»

      Er sagte Unfallort, nicht Tatort. Nahm einen Schluck Bier, blickte ins Glas und sagte mit seiner belegten Stimme: «Der Mann wird auch dabei sein.»

      «Werner Baumberger?»

      Amstad schaute sie an, sein Auge zwinkerte. «Du weisst, wie er heisst?»

      «Stand heute in der Zeitung.»

      «Er wird auch dabei sein.»

      «Wann?»

      «Ich geb dir Bescheid. Sicher erst nach der Beerdigung.» Er fuhr mit der Hand an die Schläfe, als wolle er sein nervöses Auge besänftigen. Dann leerte er sein Glas, stellte es hart auf den Tisch, stand auf. «Ich muss morgen früh weg.» Er legte einen Geldschein hin. «Ich übernehme das. Tschau zusammen.» Drehte sich um und ging.

      Als er draussen war, sagte Gisler halblaut: «Er muss heim wegen seiner Alten. Bettsockenappell. Sie hat ihn im Griff.»

      9

      Kurz darauf erhoben sich die beiden Bergführer, entschuldigten sich mit einem Kletterkurs am kommenden Tag. Das Wetter sei gut, man wolle in die Höhe. «Du auch?»

      «Nur eine Wanderung.»

      «Was man nicht alles macht, um zu überleben in unserem Beruf.» Frick gab ihr die Hand, Gisler nickte ihr zu.

      Andrea winkte der Kellnerin, bezahlte mit Amstads Note, fragte nach Zeitungen. Sie steckten in der Rücklehne einer Bank beim Eingang, um Holzklammern gerollt. Andrea zog den Anzeiger aus der Stadt heraus. Dabei bemerkte sie, wie ihr ein Gast, der einsam am Fenster sass, mit dem Blick folgte. Nebst vier Männern, die Karten spielten, war er der Einzige im Lokal. Sie setzte sich wieder an den runden Tisch, bestellte einen Espresso, blätterte durch die Zeitung und fand die Todesanzeige.

      «Claudia Baumberger-Lévi, tragisch verunglückt in ihren geliebten Bergen.» Darunter das Gedicht.

      KENNST DU DEN BERG UND SEINEN WOLKENSTEG?

      DAS MAULTIER SUCHT IM NEBEL SEINEN WEG;

      IN HÖHLEN WOHNT DER DRACHEN ALTE BRUT;

      ES STÜRZT DER FELS UND ÜBER IHN DIE FLUT!

      KENNST DU IHN WOHL?