Steinschlag. Emil Zopfi . Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Emil Zopfi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783857919510
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Joe Cocker, «Need your love so bad …» Die schwülstige Stimme des alten Mackers trug sie nach Sheffield, an sein Konzert nach dem Kletterwettkampf in der Foundry. Cocker stammte aus der alten Industriestadt am Rand des Peak Distrikts. Sheffield war das Mekka der britischen Kletterszene. Da wimmelte es von verrückten Typen, die nichts im Kopf hatten als «rock, fuck and shit». Andrea war gut geklettert, hatte sogar Weltcuppunkte geholt. Und anschliessend ein paar Tage in den Wänden des Peaks am körnigen Gritstone geschnuppert. Mit Stef.

      Sie schaltete den Computer ein, klickte sich ins Netz und betrachtete die Wetterkarte. Es würde aufhellen am Nachmittag, Föhn aufkommen am Montag, die Temperatur steigen. Sie wählte Amstads Nummer. Seine Frau nahm ab. Der Bergführer sei mit Rolf Frick von der Kletterschule nochmals hinaufgestiegen.

      «Hinauf?»

      «Zu der Toten.»

      «Wird man sie heute bergen? Muss ich helfen?»

      «Nicht nötig. Morgen fliegt der Helikopter.» Die Stimme der Frau klang spröd und abweisend.

      Andrea vermied es, sie mit Du anzusprechen.

      «Ich habe einen Gast morgen.»

      «Es ist alles organisiert. Die Männer schaffen das gewiss alleine.»

      Sie hängte auf. Alles klar. Man brauchte sie nicht. In der Stimme der Frau schwang ein Unterton. Misch dich nicht ein! Tote bergen ist Männersache. Wie der Berg überhaupt. Im Führerkurs waren am Anfang solche Bemerkungen gefallen. Ein Witz wurde herumgeboten: Dich hat man nur aufgenommen, weil Andrea auch ein Männername ist und du auf der Foto mit deinem Bürstenschnitt wie ein Bub aussiehst. Sie fand das widerlich, zahlte es den Männern heim im Fels, wo sie am stärksten kletterte. Schon bald waren die Bemerkungen verstummt.

      Sie startete das Mailprogramm. Tippte: «Lieber Stef». Löschte. Ersetzte das «Lieber» durch «Hallo». Dann war auch schon Ende. Sollte sie ihm danken, dass er sie empfohlen hatte? Ein Zeichen geben: Wir könnten doch wieder Freunde sein. Du gehst deinen Weg, ich den meinen. Wir hatten doch auch gute Zeiten zusammen. Am Computer konnte man nicht am Bleistift nagen, deshalb knabberte sie am Daumennagel.

      Joe Cocker säuselte und stöhnte und krächzte, wie damals im Stadion in Sheffield, im Flutlicht der Scheinwerfer, umhüllt von einer Wolke von Haschischrauch. «What do I tell my heart? …»

      Weisst du noch, Stef? Unser Peak! Schafherden auf kargen Weiden, umgeben von Trockenmauern, Eichenwälder im Herbstlaub, dunkelbrauner Gritstone, der sich in kilometerlangen Felsbändern dahinzieht. Kletterer krabbeln über raue Platten und durch Risse hinauf wie bunte Ameisen, die in der Sonnenwärme ihren unsichtbaren Duftspuren folgen.

      Andreas Gesicht spiegelte sich im Bildschirm. Schemenhaft das dunkle Stoppelhaar, das ihre abstehenden Ohren so richtig zur Geltung brachte. Die Nase mit der viel zu breiten Wurzel machte auch der gepiercte Diamant nicht edler. Sie sah wirklich aus wie ein Rotzjunge, fehlten nur noch die Pickel.

      «Du machst dich absichtlich hässlich», hatte Stef gelegentlich bemerkt. Wenn er nicht seine zärtliche Anwandlung hatte und sie die schönste Frau der Welt fand mit dem stärksten Busen und den tiefsten Augen. Bloss eine Spur zu klein, um als Model Karriere zu machen. Mit einer neckischen Neigung zur Rundheit, wie sie Männer so lieben. Scheissmänner! Sie war jedenfalls gross genug, um in der Wand Griffe zu erreichen, mit elastischen Zügen, die der hochgeschossene Lackel niemals packte. Sie war klein, stark, ein Kraftpaket, eine gespannte Feder. Schön oder hässlich, es war einerlei.

      Andrea ging ins Bad, rieb den Ellbogen mit Salbe ein. Er schmerzte noch immer. «Bergführerin in ihrer Wohnung abgestürzt!» Sie stellte sich die Schlagzeile in der Sonntagszeitung vor. Echt zum Grölen. Doch in der Zeitung stand wohl eine andere Nachricht. «Frau auf Wanderung von Stein erschlagen!»

      Die Wohnung war ein Käfig geworden, in dem sie ziellos umhertigerte. Wohin sie auch schaute, sie sah die Frau auf ihrem kalten Totenbett liegen. Gross, schlank, mit rötlich schimmerndem Haar und teuren Kleidern, Marke Kleeblatt. Eine schöne Frau. Sie wusste nicht einmal ihren Namen.

      4

      An der Kaffeebar der Autobahnraststätte sassen nur wenige Leute, rauchten, lasen Zeitung. Sie bestellte einen Espresso und einen Brioche, blätterte durch die Sonntagszeitung, fand nichts über den Unfall. Dann rief sie ihren Vater an.

      «Bist du unterwegs?», fragte er. «Ich verstehe dich kaum.»

      «Auf dem Weg zu dir.»

      «Nicht auf einem Berg?»

      «Schlechtes Wetter.»

      «Ist das Wetter schlecht, dann ist der alte Papa recht.» Er lachte über den Reim, den sie ziemlich blöd fand. Sie vernahm eine Stimme aus dem Hintergrund. Im Rauschen des Mobiltelefons hörte sich seine Antwort an wie holpriges Englisch.

      «Hast du Besuch?»

      «Mein Schutzengel ist da.»

      Sein meckerndes Lachen ging ihr auf den Geist. Sollte sie wieder umkehren? Auf eine der Damen, die er auf Carreisen oder Tanznachmittagen anbaggerte, hatte sie nicht die geringste Lust. «Meine Zuckerpuppe» nannte er sie. «Mein Haussegen, meine Dulcinea». Diesmal war es sein Schutzengel. «Seit wann sprechen Schutzengel Englisch?», fragte Andrea.

      «Engel sprechen Englisch. Darum heissen sie Engel.

      «Sehr witzig.»

      «Spiel nicht die beleidigte Tochter. Kommst du zum Essen?»

      «Hab keinen Hunger.»

      «Also du kommst», sagte er. «Beeil dich. Es gibt was Besseres als Leberwurst.» Er hatte ein Flair für Damen, die gut kochten.

      Auf dem Parkplatz waren zwei Männer vor ihrem Jeep stehen geblieben. Er fiel auf. «Rock’n’ Ice» prangte auf beiden Seiten in Graffitischrift. Ein Farbverlauf von Gelb nach Blau sollte die Verbindung von Fels und Eis darstellen. Darunter stand ihre Webadresse: www.rocknice.com.

      «Sieht geil aus», hörte sie einen der Männer sagen, bevor sie weitergingen. Der Jeep war die Investition ihres Vaters ins Unternehmen. «Von deinem Erbteil.» Das hatte er wohl ironisch gemeint, wie so vieles. Es war ein älteres Modell, das schon etwas Rost angesetzt hatte bei Fahrten durch Gebirge und Wüsten. Robert hatte den Wagen für einen guten Preis einem bekannten Garagenbesitzer abgeschwatzt. «Der war mir noch was schuldig. Von früher.»

      Auf der Autobahn rauschte sie auf der Überholspur an den Sonntagsfahrern vorbei, summte zu einer CD von Laurie Anderson und zum Zischen der Reifen auf dem feuchten Asphalt. «You’re walking. And you don’t always realize it, but you’re always falling …»

      Sie parkte an der Quartierstrasse vor dem Reihenhaus mit dem kleinen Garten. Eine Siedlung für städtische Angestellte, Strassenbahner, Arbeiter des Wasserwerks, Polizisten. Hier war sie aufgewachsen, doch fühlte sie sich nicht mehr zu Hause in dieser Welt von Ruhebänken, Rosenbeeten, Gemüse und Gartenzwergen. Sie stiess das Gartentor auf, schritt über den Plattenweg zum Haus. Das Rasenviereck im Garten war nicht gemäht, die Johannisbeersträucher mit Brennnesseln durchwuchert, die Gemüsebeete voller Unkraut, ein paar Salatköpfe aufgeschossen. Keine Bohnen, kein Rosenkohl, kein Lauch waren gepflanzt. Die Erdbeerstöcke verdorrt, die Mutter immer sorgfältig mit Holzwolle unterlegt hatte. Andrea schob die Erinnerungen weg und klingelte.

      Robert öffnete, drückte ihr einen feuchten Kuss auf die Wange. «Warum klingelst du? Komm doch rein.» Er duftete nach Rasierwasser und trug ein orangefarbenes Polohemd mit blauen Segelschiffen, das sich über seinem Bauch spannte. Die obersten Knöpfe standen offen, eine Kette mit einer Silbermünze baumelte an seinem Hals über den weissen Brusthaaren.

      «Ich wollte nicht stören.»

      «Du störst doch nie. Du bist hier zu Hause, Tochter.»

      Es war einmal, dachte sie. Ein Duft von exotischen Gewürzen erfüllte den Korridor und befremdete sie. Durch die Milchglasscheibe der Küchentür sah sie einen Schatten am Herd hantieren, hörte Öl zischen und Pfannen klappern. Der Schutzengel kochte.