Sie waren aufgewärmt, nun erwachte ihre Kletterlust erst richtig. Noch immer im Schatten erreichten sie den Plattengürtel, die Schlüsselstelle. Daniel bat um eine Pause. Am Sicherungsring hängend reichte sie ihm die Wasserflasche und einen Getreideriegel. «Jetzt kommt das schönste Stück.»
«Ich weiss. Ich kenne die Route. Bin gespannt, wie dus packst.» Er steckte sich eine Zigarette an.
«Wie oft hast du sie geklettert?»
«Mehrmals. Sogar allein wollte ich es mal versuchen. Erster Solo.»
«Du warst ein Crack zu deiner Zeit, nicht wahr?»
«Zu meiner Zeit? Vielleicht …» Er blies Rauch durch die Nase. «Man ist selten das, was man zu sein glaubt.»
«Was hast du denn geglaubt von dir?»
«Ich meinte, ein verrückter Freak zu sein. Ein Querschläger, ein Querulant, ein Desperado, ein Frauenheld. Genügt das?»
«Wunderbar», sagte sie. «Schade, bin ich nicht früher geboren.»
«Oder ich später.»
Sie sahen sich an und lachten. Er hatte sich ein rotes Tuch um den Kopf gebunden, versteckte damit den Ansatz einer Glatze und glich so den Freaks, mit denen sie in den Staaten geklettert war. In seinem Ohrläppchen blinkte ein Ring. Ein Arzt und Kletterfreak mit Ohrring und melancholischer Stimme.
Sie waren sich nahe, am Haken hängend, ihre Ellbogen berührten sich. Die Befangenheit der ersten Begegnung war verflogen. Andrea fragte: «Und was bist du wirklich, wenn nicht ein Freak, ein Querulant, ein Querschläger?»
«Ein Spiessbürger, eine treue Seele. Und ein guter Arzt, hoffe ich.»
«Auch schön», sagte sie. Dann kletterte sie leicht und beschwingt über die glatte Platte, fast euphorisch klippte sie Haken um Haken, hörte die Kuhglocken und das Tingeln der Karabiner, hörte irgendwo Wasser rauschen oder Wind, und dann, noch kletternd, ein fernes Brummen. Sie kam zum Stand, richtete sich ein, und während Daniel bedächtig über die Schlüsselstelle folgte, gelegentlich nach Griffen suchte, aber nie im Seil hing, sah sie den dunklen Punkt aus dem Schatten ins Sonnenlicht steigen. Ein Heli wie eine rote Hummel. Er strich dem Wandfuss entlang gegen Westen, verschwand hinter einer Krete. Er war gekommen, um die Tote zu bergen, die seit zwei Tagen in einem alten Biwaksack auf einem Felsband lag.
«Was ist das?», fragte Daniel am Stand. «Unfall?»
«Eine Frau, am Samstag vom Steinschlag getroffen.»
«Beim Klettern?»
«Auf dem Weg unter der Wand. Dort, wo er die Runse quert. Sie war mit ihrem Mann auf dem Abstieg von der Hohen Platte.»
«Auf dem Weg? Eigenartig.»
Andrea erzählte, wie sie die Tote gefunden und gesichert hatten. Das Brummen des Helikopters schallte gegen die Wand. Er stand über der Krete in der Luft.
«Sie setzen die Winde ein. Der Heli kann dort nicht landen, es ist zu steil.»
«Hast du die Frau gekannt?»
«Ich weiss nicht einmal ihren Namen.»
Sie kletterten weiter. Einen Überhang überwand sie fast im Spagat, elegant und schnell, fühlte sich dabei wie eine Balletteuse auf einer senkrechten Bühne. Obwohl sie vor Ballett eine tiefe Abscheu hatte, vor einstudierten, von einem Ballettmeister choreografierten Abläufen. An der Wand bestimmte sie selber, hier war sie die Meisterin, sie fand ihren Rhythmus und ihren Weg selber. Deshalb war sie wohl Bergführerin geworden. Sie wollte führen, nicht geführt werden.
Unter den Ausstiegsrissen, kurz vor dem Gipfel, überströmte sie eine Welle von Sonnenlicht. Sie tranken Wasser, teilten sich eine Banane und einen Apfel. Unvermittelt schlug das flatternde Dröhnen des Helikopters um eine Kante, er drehte von der Wand weg, schraubte sich in die Höhe, schleppte an einem Seil ein Netz, und in diesem hing die Leiche im gelben Sack und drehte sich um ihre eigene Achse. Der Helikopter wendete sich gegen das Tal, tauchte in den Schatten, sein Gebrumm verebbte. Sie schauten ihm nach. Daniel sagte: «Mich haben sie auch mal so geholt. Von hier oben.»
«Glück gehabt also.»
«Glück gehabt. Und einen Freund, der mir das Leben gerettet hat.»
Er blickte dorthin, wo der Helikopter verschwunden war, wo sich die Hügel zu den Alpen hin erstreckten, ein grüngraues Wellenmeer von Weiden, Wäldern, Fels. Er sah in die Ferne und doch in sich hinein, schien es, zog an seiner Zigarette und sprach kein Wort mehr, bis Andrea weiterkletterte, die Risse hinauf, die zum Gipfel der Sila führten. Der Felsturm war aus härterem Gestein als die Wand der Plattenburg, aus der er vorsprang. Härter als der Rest der umliegenden Berge. Eine Sage erzählte, die Sila sei eine versteinerte Frau. Deshalb liebte Andrea diesen Turm aus Stein, der fester und stärker war als alle andern Felsen des Gebirgszugs. Die Sila würde noch aufrecht stehen, wenn die umliegenden Berge zerbröckelt und zu Staub zerfallen waren.
Wieder packte sie der Gedanke an den Steinschlag, dieses Zeichen des Zerfalls. Sie sah den Stein niederkrachen, aber plötzlich war da ein Mann, eine schemenhafte Gestalt mit erhobener Hand. Sie versuchte, das Bild in ihrem Kopf auszulöschen, doch es hatte sich festgesetzt, begleitete sie während der letzten leichten Schritte zum Gipfel.
Sie sassen neben dem Steinmann auf der Spitze des Felsturms, redeten Belangloses, assen Brot und Äpfel aus Andreas Rucksack. Daniel rauchte. Über seinen Unfall schwieg er sich aus, erwähnte nur, dass sie damals weitergeklettert seien, durch eine brüchige Wand zum Gipfel der Plattenburg, des Bergs, der die Sila überragte. Dort hätten sie biwakiert. Der Rest der Geschichte war offenbar ein Tabu. Wie sein Verhältnis zu Stef. Seine Familie. Wie er lebte. Ob er Kinder hatte. Nichts erfuhr sie, und fragen mochte sie nicht. Nicht einmal geküsst hatten sie sich, wie das sonst üblich war, wenn Mann und Frau einen Gipfel erreichten. Doch ihre Rollen waren klar, sie war die Führerin, er der Geführte. Ein Kuss schien nicht angebracht. Sie hatten sich die Hand gedrückt, er hatte gesagt: «Grandios, wie du kletterst. Danke für die Führung.»
Während der Tour hatte sie kaum Schmerzen im Ellbogen verspürt, doch nun nahmen sie zu. Sie rieb sich die schmerzende Stelle.
«Ist was?»
«Kleine Verletzung.»
«Wovon?»
«Angeschlagen.»
Er fragte zum Glück nicht, wie es passiert war, bog ihren Arm sacht nach hinten. «Schmerzt das?»
«Nein.»
Er betastete den blauen Fleck mit Fingern, deren Kuppen vom Klettern rau waren. «Tut das weh?»
«Ein bisschen.» Sie presste die Lippen zusammen.
«Entzündung der Sehnenansätze. Von einer Zerrung, die nicht ausgeheilt ist, wahrscheinlich.»
Sie reichte ihm die Taschenapotheke aus dem Klettersack. Er massierte Salbe auf die schmerzende Stelle, riss eine Verbandpatrone auf, legte ihr einen festen Verband an. «Du solltest dich schonen in nächster Zeit. Und zum Hausarzt.»
«Habe keinen. Ich bin nie krank.»
«Dann such dir einen. Ich würde den Ellbogen röntgen lassen.»
«Kann ich das bei dir? Du bist doch ein guter Arzt, hast du gesagt.»
«Ohne eigene Praxis. Zu mir kommst du nur als Notfall.»
Sie seilten sich ab, sehr schnell, die Abseilpiste war mit dicken Haken, so genannten «Muniringen», ausgerüstet. Es war früher Nachmittag, als sie auf der Alp beim Jeep ankamen. Auf dem Parkplatz stand ein Polizeiauto und daneben Amstads Rover.
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In der Gaststube der «Alpenrose» sass eine