Und jetzt sah ich Anna an, fragte mich, ob ich ihr von all dem erzählen sollte, jetzt, wo Finn tot war und es niemals selbst würde erzählen können. Doch ich ließ es bleiben, ich wollte ihr in diesem Moment nicht noch mehr zumuten. Und ich glaubte nicht, dass das jetzt noch etwas ändern würde.
Sie riss mich aus meinen Gedanken. «Ich weiß einfach nicht, was Finn und Vanessa an ihm finden. Er ist wie ein nerviges Kind, das einfach drauflosspricht, ganz ohne Filter. Er hat sich nicht unter Kontrolle, manchmal, da hat man das Gefühl, er dreht jeden Moment durch. Weißt du, was ich meine?»
Sie traf es ziemlich gut, dachte ich. «Du übertreibst», sagte ich aber.
«Na ja, ist ja okay. Zum Glück müssen wir uns nicht alle heiraten», sagte sie und lächelte.
Ich nickte.
«Was ist mit Osteuropa?», fragte ich dann.
«Ich kann es dir nicht sagen, Malte. Gib mir etwas Zeit, dann können wir das planen.» Ihre Stimme wurde weicher. «Wir werden fahren, versprochen.»
Sie lächelte, und ich versuchte, mir die Reise vorzustellen. Ich sagte mir selbst, dass ich mich nicht so anstellen sollte. Ob früher oder später, was spielte das für eine Rolle? Ich stellte mir vor, wie ich am Steuer saß und mit ihr durch die Nacht fuhr. Leere Autobahnen und leise Stimmen aus dem Radio, die wir nicht verstanden, aber denen wir trotzdem gerne zuhörten, bis ihr Rhythmus in unsere Gedanken überging. Wir würden immer wieder anhalten, um uns dampfenden Kaffee zu besorgen, damit wir noch ein wenig wach blieben, die Nacht nutzten und den Tag für neue Orte hatten. Ich dachte an unbekannte Städte, an goldene Zwiebeltürme, an Geigenmusik in steinernen Kellern.
Anna lächelte mich an. «Ich seh dir gerne zu, wenn du in Gedanken versinkst. Ich wünschte, ich könnte das auch.» Dann sah sie auf ihre Uhr. «Es ist schon spät.»
«Du kannst ruhig gehen, ich bezahl das schon», sagte ich.
«Danke», sagte sie und gab mir einen Kuss. Ich legte meine Hände um ihre Wangen und zog sie nochmals zu mir hin, wir küssten uns nochmals.
«Ich bin spätestens um halb sieben fertig. Vielleicht lassen sie mich heute ja etwas früher gehen, wer weiß.»
«Ich will dich noch sehen, bevor ich fahre. Ich komme so gegen sieben bei dir vorbei, okay?»
«Du fährst also», sagte sie, als sie schon einige Schritte in Richtung Tür gegangen war. Es hatte nicht wie eine Frage geklungen.
In meiner Wohnung öffnete ich das Fenster. Der Geruch von Holzkohle und Fleisch. Ich merkte, dass ich Hunger hatte und den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Ich öffnete den Kühlschrank, aber er war fast leer. Da war noch irgendein Joghurtdrink, den Anna mal mitgebracht hatte. Ich goss mir ein Glas ein und nahm einen Schluck. Er schmeckte sauer, ich spuckte ihn aus, schleuderte das Glas auf die Spüle und erschrak gleich darüber. Ich starrte eine Weile auf die Glassplitter. Dann sah ich rüber zur Tür. Ich war mir sicher, dass mein Nachbar es gehört haben musste. Ich ging wieder zum Fenster, versuchte, ein wenig herunterzukommen. Ich stützte mich auf dem Fensterbrett ab, atmete langsam durch. Ich sah draußen mehrere Fahrräder vorbeifahren. Eine der Fahrradklingeln schepperte leicht, ein Kind lachte. Ich dachte an Bens Anruf.
Ich setzte mich aufs Bett und schaute mir auf Netflix eine Serie über Hochsicherheitsgefängnisse in den USA an. Das Hungergefühl war verflogen. Ein Typ mit tätowiertem Gesicht starrte mich an, er saß wegen Mordes. Schon fünfzehn Jahre lang. Er schaute in die Kamera, seine Augen waren groß und dunkel wie Pferdeaugen. Er sprach sehr langsam und leise, und er sagte, dass er nichts mehr fürchte als den Tag, an dem er freikommen würde und an dem alles auf einen Schlag zerbräche, was er sich die ganzen Jahre im Knast über aufgebaut hatte. Ich dachte eine Weile darüber nach. Dann vibrierte mein Handy. Ich merkte gleich, dass sie betrunken war. Es war ihre Stimme, sie klang seltsam aufgekratzt, fast fröhlich, was mich wunderte.
«Es ist lange her», sagte ich.
«Wann kommst du morgen an?»
«Um sieben.»
«Schön. Ich freu mich schon.»
«Wie geht es dir?»
«Ich weiß es nicht. Irgendwie fühl ich mich jetzt gerade das erste Mal besser, also seit letzter Nacht. Ich weiß auch nicht, weshalb ich angerufen habe. Es war eine dumme Idee, ich wollte einfach mit dir reden.»
«Das macht nichts. Ich versteh das.» Ich klappte den Laptop zu und legte mich aufs Bett. Ich merkte, dass ich lächelte.
«Ben war vorhin hier. Er kommt auch später nochmals vorbei.»
«Du solltest ihm sagen, dass er sich verpissen und dir nicht so auf die Pelle rücken soll.»
Sie kicherte. Ich hatte diesen hellen Klang völlig vergessen.
«Werde ich, Malte.» Sie klang aufrichtig fröhlich, was mich verwunderte. «Ich werde es genau so sagen. Verpiss dich und rück mir nicht auf die Pelle, Alter!»
Auch ich musste lachen.
«Er vergöttert dich.»
«Du spinnst ja», sagte sie. Sie hatte Schluckauf. Ich hatte Lust, mit ihr einen zu heben, ein kaltes Bier.
«Mir ist vorhin was aufgefallen», sagte sie. «Wir waren noch nie wirklich zu zweit alleine, oder?»
«Nein, ich glaube nicht», sagte ich und dachte, dass mir das nie aufgefallen war.
«Hast du dich verändert?», fragte sie.
«Ich weiß nicht. Das ist eine seltsame Frage.»
«Ich muss dir was zeigen, wenn du da bist.»
«Was denn?»
«Du wirst schon sehen. Du darfst dich auf eine gute Aussicht freuen, aber mehr verrate ich nicht.»
Ich versuchte mir Zürich vorzustellen, dachte an hohe Berge und fragte mich auf einmal, ob das mit dem Schnee im Sommer wirklich stimmte. Einen Moment lang wollte ich Nessa danach fragen, aber ich ließ es bleiben, die Frage kam mir bescheuert vor.
«Ich glaub, ich hab mich nicht verändert», sagte ich dann.
Ich wartete, aber sie sagte nichts. Dann begriff ich, dass sie weinte. Ich hörte es ganz deutlich.
«Es tut mir sehr leid. Das alles», sagte ich.
Sie brauchte eine Weile, bis sie etwas sagte.
«Nein, mir tut es leid. Es ist einfach so über mich gekommen, ich sollte mich etwas mehr zusammenreißen.»
«Du musst dich nicht entschuldigen. Es ist gut, es muss sich befreiend anfühlen.»
«Nein, das tut es nicht», sagte sie und klang ganz anders als vorhin, als sei sie auf einmal nüchtern.
«Ich werde jetzt wohl besser gehen», sagte sie dann. «Wir sehen uns dann morgen, ja?»
«Warte, Vanessa …»
«Hm? Seit wann nennst du mich denn Vanessa?», fragte sie. Ich war selbst überrascht, der Name war mir einfach rausgerutscht.
«Ich weiß auch nicht», sagte ich. «Gönn dir etwas Ruhe, okay?»
«Ja.»
«Wir sehen uns morgen. Ich freu mich.»
Ich schloss meine Wohnungstür ab und ging die Treppe hinunter. Vor den Briefkästen des Wohnblocks blieb ich stehen. Mein Namensschild war wirklich weg. Vielleicht hatte es dieser Typ eigenhändig runtergerissen, einfach, um wieder einen Grund zu haben, sich in was hineinzusteigern. Ich suchte den Zettel auf dem Boden, fand ihn aber nicht. Dann sah ich schwarze Aschekreise auf dem Briefkasten meines Nachbarn. Jemand hatte wohl seine Zigarette darauf ausgedrückt, bevor er sie im Mülleimer daneben entsorgt hatte. Ich grinste