All das hier. Alexander Kamber. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alexander Kamber
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783038551492
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auf dem Bild, er war etwas pummelig, machte den Eindruck von jemandem, dem Leute gerne Dinge anvertrauen. Anna hatte mir erzählt, dass er Gedichte schrieb, schon seit Jahren, für die er sich als Junge geschämt hatte. Aber es waren Wahnsinnsgedichte, hatte sie ge­­sagt. Das war das Einzige, was ich da wirklich von ihm wusste. Auf dem Bild trug er ein Sweatshirt mit irgendwelchen Comicfiguren darauf. Als wir uns vor einem Jahr das erste Mal gegenüberstanden, glaubte ich zuerst, dass Anna mir damals das Foto einer anderen Person gezeigt hatte.

      Anna fiel ihm um den Hals, ich stand daneben und kurz dachte ich, irgendwo sei eine versteckte Ka­­­mera. Aber wozu, wer hätte schon darüber ge­­lacht? Sie sagte «Moin Moin» und strahlte, Finn hat komisch geguckt, hat den Ausdruck nicht gekannt. Ich dachte an das alte Foto von ihm. Natürlich war er inzwischen älter, aber das war es nicht. Er trug Stoppeln und einen Schnurrbart, der ihm etwas aus früheren Zeiten verlieh. Er sah aus, wie ich mir den jungen Hemingway vorgestellt hatte. Er war etwas schlanker, drahtiger, aber er strahlte diesen ansteckenden Tatendrang aus. Und auf einmal hatte ich das Gefühl, betrogen worden zu sein. Mir wurde klar, dass ich ihn beneidete. Er hatte mit an­­sehen können, wie sie zu der Frau wurde, mit der ich seit einigen Monaten zusammen war, es war alles so frisch und bedeutete nichts im Gegensatz zu all den Jahren mit ihm. Ich kam da nicht gegen ihn an, und das alles strahlte er aus, ohne nur ein Wort zu sagen. Ich und Finn schüttelten uns die Hände. Ich versuchte zu lächeln, Anna strahlte immer noch. Er sagte, er freue sich, mich kennenzulernen, und ich hab ihm das auch wirklich abgenommen.

      Dann stellte er uns Ben und Nessa vor. Ben war doppelt so breit gebaut wie Finn, sein Haar war kurz und dunkelblond. Seine Haut war sehr weiß. Er sah aus wie jemand, der als Rausschmeißer in einem irischen Pub arbeitet. Seine Arme waren grau und grün und rot, und die Farben waren verwaschen. Ich fragte mich, ob sie seine Tattoos übermalen mussten, bevor er auf die Bühne konnte.

      An Nessa fiel mir als Erstes ihr Gang auf. Sie be­­wegte sich anmutig und selbstsicher, zog die Blicke auf sich, und ich sah ihr an, dass sie das wuss­te. Ihr Haar war kräftig und lockig und dunkel, sie hatte es lose hochgesteckt, einige Strähnen fielen ihr in die Stirn. Seitlich über ihrer Lippe blitzte ein Piercing auf, ein silbernes Muttermal. Mir fielen ihre Augen auf, sie waren immer in Bewegung, sie wa­ren wacher, lebendiger als die Augen anderer Menschen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie stundenlang still auf einem Stuhl saß und nichts tat, ich sah, wie sich ihre Hände bewegten, wenn sie sprach.

      Ich packte meine Tasche. Danach buchte ich ein Doppelzimmer für zwei Nächte, damit wir nach der Beerdigung nicht gleich wieder zurückmussten, damit Anna Gelegenheit hatte, wieder einmal einen Abend in ihrer Heimatstadt zu verbringen. Die Zugtickets würden wir direkt am Bahnhof besorgen können.

      Mittlerweile war Nachmittag. Ich ging rüber zum Fenster. Auf dem Fensterbrett war ein runder Abdruck von dem Aschenbecher, der die letzten Jahre dort gestanden hatte und der mich an den Geruch erinnerte, nach dem ich mich jetzt wieder sehnte, trocken, bitter und warm. Ich schaute eine Weile hinaus. Die Sonne brannte auf die gelben Sonnenschirme mit der Pilswerbung darauf, die Luft flimmerte. Es war Juni. Das Hamburger Schanzenviertel. Eckkneipen, Flohmärkte und Studentenbuden, auf deren Balkonen regenbogenfarbene Flaggen wehten. Den Sommer über waren die meis­ten Häuser leer, nichts weiter als große Särge. Das Leben spielte in den Innenhöfen, in denen sich der Geruch von gegrilltem Fleisch mit Tabakrauch vermischte.

      Ich hatte Anna immer noch nicht angerufen. Sie war auf der Arbeit im Theater, und ich wusste, dass sie viel zu tun hatte. Dass die letzte Zeit nicht ein­­fach für sie war. Neben der vielen Arbeit, die immer vor der Sommerpause an den Theatern an­­fiel, hatte sie auch noch das endlose Bewerbungsprozedere für diesen Sommerjob, von dem sie seit Monaten sprach. Eine Hamburger Theatercrew tourte zwei Wochen lang durch Schweden und suchte kurzfristig noch einen Szenografen. Es war eine bekannte und prestigeträchtige Tour, die ihr so einiges ermöglichen würde. Sie hoffte wahnsinnig auf diese Stelle.

      Falls sie den Job nicht kriegen sollte, wollten wir sofort losfahren. Mit dem Van ihres Bruders durch Osteuropa. Es war ihre Idee gewesen, sie hatte gemeint, es sei höchste Zeit, mal von hier wegzukommen. Schon lange malten wir uns die Reise aus, nur konnten wir uns noch nicht auf die Städte einigen. Das war auch nicht wichtig, hatte Anna gesagt. Sie hatte recht. Hauptsache gen Osten, Hauptsache bald. Und jetzt tauchte dieser neue Ort auf, an den wir beide nie gedacht hätten und der sich zwischen das alles schob.

      Ich drehte mich um und starrte in das Innere meiner Wohnung, ich fühlte mich am falschen Ort, alles fühlte sich falsch an. Mit dem Rücken zum Fensterbrett betrachtete ich die niedrige, schwarze Ledercouch, auf der getragene T-Shirts und Socken lagen, meine Matratze auf hölzernen Pa­letten, den Esstisch mit einem kleinen Turm aus Büchern darauf und eine Kleiderstange, da ich keinen Schrank hatte. Ein Paar Krücken lehnten in der einen Ecke des Raums.

      Ich kramte mein Handy hervor, als es an meiner Tür klingelte. Ich merkte, wie ich erleichtert aufatmete. Ich ging rüber und öffnete.

      Es war der Typ von nebenan. Er war von diesem Schlag Mensch, die einem mit der Polizei drohten, wenn man nach zehn Uhr abends den Fernseher zu laut laufen hatte. Er trug ein kariertes Hemd mit kurzen Ärmeln, hatte ein rotes Gesicht und dieses zuckende Auge, das mich fertigmachte. In seiner Hand zerquetschte er einen Stapel Briefe.

      «Ihre Post verstopft mal wieder meinen Brief­kasten», sagte er und hielt mir die Briefe vors Ge­­sicht. Dann wedelte er mit ihnen in der Luft herum, als hätte er Angst, dass ich ihm das nicht glaubte.

      «Tut mir leid», sagte ich. Das Ding war, dass ich kein richtiges Namensschild an meinem Brief­kasten hatte. Ich hatte mich nie darum gekümmert. Nur so ein Stück Papier mit meinem Namen drauf, das immer wieder runterfiel, sodass ich alle paar Wochen ein neues ankleben musste. Ab und an landete dann eben meine Post in dem Briefkasten von diesem Kerl, der mit seiner Frau in der Wohnung neben mir im vierten Stock wohnte. Ich streckte meine Hand nach den Briefen aus, aber er zog sie ruckartig zurück.

      «Das ist ja nicht das erste Mal, dass ihre Post bei mir landet.»

      «Ja, aber …»

      Er unterbrach mich. «Das kann doch nicht zu viel verlangt sein, seinen eigenen Briefkasten or­­dent­­­lich anzuschreiben. Oder ist sich der Herr Schauspieler dafür zu fein?»

      Er atmete schwer, hauchte mir beim Sprechen seinen dunstigen Atem ins Gesicht, und das eine Auge zuckte noch wilder, schien fast zu explodieren.

      «Ich hab mir das Bein gebrochen», sagte ich. «Konnte drei Monate lang nicht richtig laufen.»

      Er glotze auf mein Bein. «Dann sind Sie wohl gerade eben zur Tür geschwebt, nehme ich an?» Er funkelte mich an. Ich wunderte mich über seine Wut.

      «Wir sind ja schon ’ne Weile Nachbarn», sagte ich. «Ich finde, es ist langsam Zeit, zum Du überzu­gehen, was halten Sie davon?»

      Einen Augenblick verschwand die Wut aus seinen Augen, und er sah irgendwie zahm, fast hilflos aus, als hätte er vergessen, was er hier überhaupt wollte. Aber nur für einen Augenblick, dann pfeffer­te er mir die Briefe vor die Füße und machte einen Abgang. Ich stand da, die Tür noch immer offen. Ich hätte ihm sagen sollen, dass er sich ficken soll, aber er war schon lange wieder in seiner Wohnung verschwunden. Ich hob die Briefe auf. Das Papier war ganz nass von seinen Händen. Nach der dritten Rechnung legte ich die restlichen Briefe ungeöffnet zur Seite.

      Es ist schon seltsam. Manchmal geschieht et­­was und das Leben verändert sich schlagartig. Es regnete, und ich rannte, weil ich einen Zug erwischen musste. Die Rolltreppe war nass, und ich fiel auf den letzten Stufen, der Schmerz war stechend. Die Menschen schauten kurz und liefen weiter, nur eine alte Frau starrte mich an, gelähmt vor Schreck, ein paar Sekunden lang. Sie hielt ihre grüne Handtasche mit beiden Händen fest und blieb stehen. Ich sah nur ihre Hände. Sie sahen aus wie Krallen.

      Es blieb mir nichts übrig, als auf dem kalten Steinboden sitzen zu bleiben und die Nummer des Notrufs zu wählen. Das Geräusch des Freitons mischte sich mit dem des Zuges, den ich hätte nehmen müssen und der mit einem metallenen Kreischen den Bahnhof verließ.

      Das Schienbein ge­­bro­chen, ein glatter Schnitt, wie mit dem Lineal gezogen, meinte der Arzt. Vor etwa