All das hier. Alexander Kamber. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alexander Kamber
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783038551492
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      Über dieses Buch

      Einen Sommer lang waren sie zusammen, haben in Hamburg ein The­a­ter­­stück auf die Bühne gebracht und sind da­nach für unbeschwerte Tage ans Meer gefahren.

      Ein Jahr später kommt Finn bei einem Autounfall ums Leben, und mit ihm schwindet das heimliche Gra­vi­tations­zen­trum der Beziehungen. Da ist Anna, einst Finns Freundin, die jetzt mit Malte zusammen ist. Malte, des­­sen Nähe zu Finn ungeklärt geblieben ist. Und da ist Ben, dem Finn ge­gen die Drogen zu helfen versucht hat und der Finns Freundin Nessa mehr als zu­ge­neigt ist.

      Der Roman erzählt von den wenigen Tagen nach Finns Tod und vom Wiedersehen der Freunde zum Begräbnis in Zürich. Sie streifen durch die Bars und über die Dächer der Stadt und versuchen, das Vergangene wieder zu­­sam­menzu­setzen. Der noch von Finn geplante ge­meinsame Trip nach Südfrankreich ­verspricht, wieder an jene Tage am Meer anknüpfen zu können.

      «All das hier» ist ein Roman von einer melancholisch gelassenen Poesie, der von den Liebesgeschichten eines Freundeskreises und vom Ende der ­Ju­gend erzählt.

      Foto Ayșe Yavaș

      Alexander Kamber, geboren 1995 in ­Zürich. Ebenda Kindheit, Jugend, erste Short Stories. Zurzeit Studi­um der Kulturwissenschaften mit Schwerpunkt Philosophie an der Universität Lüneburg und arbeitet daneben als freier Journalist.

      Alexander Kamber

      All das hier

      Roman

      Limmat Verlag

      Zürich

      Für Ash

      Man reist immer mit Toten im Gepäck.

      Mathias Énard

      1

      Mitten in der Nacht vibrierte mein Handy.

      Zuerst erkannte ich Bens Stimme nicht. Sie war höher als sonst, passte nicht zu ihm, sie überschlug sich mehrere Male. Ich versuchte ihr zu folgen, den unwirklichen Dingen, die sie sagte. Finn sei gestorben. Ein Auto. Und es habe geregnet. Mehr wisse man nicht. Noch nicht.

      Ich konnte das Pochen meines Herzschlags in den Ohren spüren. Wir sagten beide nichts, und ich wägte ab, ob das wahr sein konnte oder ob ich träumte und gleich aufwachen würde.

      Ben begann wieder zu sprechen, erst hörte ich ihn gar nicht. Ich lag auf dem Rücken, ohne mich zu rühren. Der Klang seiner Stimme kam von weit her, und da war dieses Gefühl, als sei Finn auf einmal in diesem Raum.

      Dann spulte er einen Text ab, der so klang, als habe er ihn schon hunderte Male runtergeleiert.

      «Es war seine Mutter, die mich angerufen hat. Sie war völlig fertig, konnte nicht mehr aufhören zu reden. Sie hat schon von der Beerdigung gesprochen. Von der Kirche und so. Sie hat sogar schon irgendwas von einem verfickten Sarg gesagt.»

      Ich kannte Finns Eltern nicht, versuchte mir sie vorzustellen. Ich wusste nur, dass sie ursprünglich aus Ungarn waren.

      «Finn würde sich im Grab umdrehen», sagte er dann leise, und es war seltsam, dass er das sagte. Mir wurde bewusst, dass Finn noch nicht einmal im Grab war, dass er gerade irgendwo sonst war, wo er wartete. Vielleicht war er wirklich hier in die­­sem Zimmer. Ich setzte mich auf.

      «Die Beerdigung ist schon übermorgen», sagte Ben. Sein Tonfall war ernst, aber jetzt klang er wieder wie der Alte. «Seine Eltern wollen es so. Ich glau­­­be, sie wollen es einfach hinter sich bringen. Scheiße, ich versteh sie verdammt gut.»

      Ich musste grinsen. Wenn Ben nicht fluchen könnte, könnte er wohl überhaupt nicht mehr sprechen.

      «Wenn du und Anna mit dem Zug kommt, dann am besten morgen», sagte er. «Sonst wird das zu knapp.»

      «Wir werden kommen.»

      «Das ist gut. Nessa wird sich freuen.»

      Ich fragte mich, was Nessa gerade machte. Ich stellte mir vor, wie sie in ihrem Bett lag und an die Decke starrte wie ich, sie mit ihren Augen nach ir­gend­etwas absuchte, nach verborgenen Mustern, die auch Finn gesehen haben musste in den Nächten, in denen er neben ihr lag, und ich dachte an ihre Augen, sie waren grün, vielleicht auch braun, braungrün, ich war mir nicht mehr ganz sicher, und doch war es erst ein Jahr her.

      «Wenn ihr morgen gegen Mittag losfahrt, seid ihr am Abend da. Lass mich wissen, wann ihr an­­kommt.»

      «Ja», sagte ich.

      Ich würde also nach Zürich fahren. Ich war noch nie dort gewesen. Ich stellte sie mir vage als strenge, graublaue Stadt vor. Ich dachte an Banken, hohe Gebäude, an Geld. Von Finn, Ben und Nessa wusste ich, dass Zürich die höchste Clubdichte der Welt hatte. Und dass man die Berge sehen konnte, deren Gipfel angeblich auch im Sommer von Schnee bedeckt sind.

      «Ihr könnt bei mir übernachten, ich müsste das aber bald wissen, damit ich eine Matratze besorgen kann. Oder ich kann euch ein Hotel buchen, wenn du willst.»

      «Ich sag dir noch Bescheid», sagte ich.

      Bens Stimme klang mittlerweile wieder vertraut. Es sind diese banalen Dinge, die einem Halt geben. Das Gefühl, dass sie sich nicht ändern.

      «Da ist noch was», sagte Ben nach einer Weile.

      «Hm?»

      «Ich hab Anna noch nicht Bescheid gesagt. Finns Eltern werden sie vielleicht noch anrufen, sie kannten sich ja gut. Wenn du willst, ruf ich sie gleich an. Ich dachte mir nur, vielleicht willst lieber du ihr das sagen, das ist alles.»

      «Danke», sagte ich. Wir legten auf. Ich starrte noch eine Weile auf mein Handy, dann legte ich mich auf den Rücken.

      Ich sah Finns Gesicht, es schwebte über mir wie ein Gespenst an der Decke. Seine funkelnden Augen, die unter den dunkelbraunen Locken hervorblitzten. Augen, die jetzt tot waren und eigentlich leer sein müssten, es aber nicht waren. Ich begann, mit ihm zu reden, sprach die Worte laut aus, die im Raum verklangen, in dem ich allein war und in den nach und nach das erste Licht des neuen Tages drang.

      Er lächelte mich an. Man sah diese feine Narbe auf seiner Unterlippe nur dann, wenn er lächelte. Sie war nur einige Millimeter lang, und meistens bemerkte man sie nicht. Sie hob sich leicht ab, ihre Farbe war heller als die Farbe seiner Lippen, ein blasses Rosa wie die Farbe der Haut. Und wenn man sie sah, wunderte man sich, woher sie kam. Ich hatte nie erlebt, dass ihn jemand danach gefragt hätte. Vielleicht strahlte er gerade deswegen diese Sicherheit aus, wegen diesem Makel, der unweigerlich jedes Mal sichtbar wurde, wenn er lächelte.

      Ich versuchte mich abzulenken, aber meine Gedanken kreisten immer wieder um diese eine Nacht, als er in Hamburg war. Als wir allein waren, ohne Ben und Nessa. Ohne Anna. Als er verschwand, ohne etwas zu sagen. Die ganze Nacht zog an mir vorbei, und am Ende war Finn weg, er ging mit diesem Mädchen mit den orangen Fingernägeln, das sich in meiner Wohnung aufgewärmt hatte, weil es geschneit hatte draußen und sie Angst vor ihrem Zuhause gehabt hatte. Er sagte, er bringe sie nach Hause, aber er kam nicht wieder. Und ich wartete, sah die ganzen Flaschen vor mir. Sie waren leer, wir brauchten Nachschub, vielleicht war das ja der Grund, weshalb er solange wegblieb, aber das war es nicht. Die leeren Flaschen sahen aus wie bernsteinfarbene Kristalle, ich konnte nicht fassen, dass ich noch stehen konnte, und ich sah hinaus in die Nacht vor mir, ohne etwas zu sehen. Später erfuhr ich, dass er noch in derselben Nacht zurückgefahren war, nachdem er das Mädchen sicher nach Hause zu ihren Eltern gebracht hatte. Er nahm den nächsten Zug nach Zürich, den er erwischen konnte.

      Das erste Mal sah ich Finn auf einem alten Foto, das Anna mir zeigte, als sie mir erzählte, er komme mit Ben und Nessa nach Hamburg, um «Das Bildnis des Dorian Gray» in dem Hamburger Theater zu spielen, an dem sie arbeitete. Er sollte die Hauptrolle spielen. Das Bild war alt, Anna und er waren da etwa sechzehn. Er hatte ihr gekünstelt den Arm um­­gelegt und grinste schief in die Kamera. Das war gleichzeitig auch das früheste Bild, das ich von ihr gesehen hatte, sie hatte noch in Zürich gelebt. Sie war da schon erwachsen,