Ich rief endlich Anna an und sagte ihr, Finn sei tot, weil wahrscheinlich irgendein Typ besoffen Auto gefahren sei. Sie hörte zu, sagte dabei nicht viel. Immer, wenn ich eine Pause zwischen den Sätzen machte, murmelte sie etwas, um mir zu zeigen, dass sie zuhörte. Mit lebloser Stimme, die sich anhörte, als wäre auch etwas in ihr gestorben. Ich fragte mich, ob sie das absichtlich tat oder nicht. Sie war gerade bei der Arbeit, es war bereits früher Nachmittag. Als ich alles gesagt hatte, ließ sie mich kurz am Telefon warten und sagte mir dann, sie könne eine halbe Stunde freimachen, länger nicht. Wir verabredeten uns in einem Café, das gleich neben dem Theater lag. Ich verließ meine Wohnung, es fühlte sich auch nach ein paar Tagen immer noch etwas seltsam an, so ganz ohne Krücken. Es war aber nicht wegen des Beines, dass ich nicht den schnellsten Weg zum Café nahm. Ich wollte ihr ein wenig Zeit lassen. Auch wenn es nur ein paar Minuten waren.
Sie nippte an ihrem Eistee, und da war die ganze Zeit dieses Surren der Ventilatoren, die an der Decke hingen und nicht wirklich einen Unterschied machten. Ich bildete mir ein, den Geruch des Shampoos zu riechen, das von ihrem blonden Haar ausging. Ihre Haut war blass wie die Haut einer Nordeuropäerin. Sie trug eine lockere, weiße Bluse, unter der ich die dunklen Umrisse ihres BHs erkennen konnte. Ihre Augen waren etwas gerötet. Sie hatte fast alle Spuren der Tränen verwischt, ließ sich nichts anmerken. Sie musste sich hier auf der Toilette neu geschminkt haben.
Die Wände des Cafés waren mit Zeitungen tapeziert. Die Tische waren rund und aus hellem Holz. Es gab keine richtigen Lampen, aber Hunderte Glühbirnen, die an langen Kabeln von der Decke hingen. Eine der Glühbirnen schwang durch die Luft wie ein Pendel, weil irgendein Riese gerade dagegengelaufen war. Es war ein typischer Studententreffpunkt und jetzt am Nachmittag rappelvoll. Ich hatte eine Limonade bestellt, die sie als hausgemacht verkauften. Ich hatte Lust auf ein Bier, fand es aber irgendwie unpassend. Die Limo schmeckte nach Wasser und Zucker und dem beißenden Zitronensaft aus diesen gelben Quetschflaschen.
«Ich weiß nicht, was wir jetzt machen sollen», sagte ich. «Ben hat uns angeboten, bei ihm zu pennen, aber ich weiß, dass das für dich nicht infrage kommt. Also hab ich mal ein Hotelzimmer mitten in der Stadt gebucht. Deine Eltern wohnen ja ein gutes Stück außerhalb, aber wenn du willst …»
«Ich werde nicht mitkommen», sagte sie.
Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich sah sie an.
«Es geht nicht», sagte sie und schüttelte den Kopf, ohne meinen Blick zu erwidern. Sie sah auf den kleinen runden Tisch, der zwischen uns war.
«Wieso denn?»
«Ich hab dir das noch nicht erzählt. Übermorgen ist die letzte Runde, wo sie die Kandidaten befragen für die Stelle in Schweden. Morgen muss ich ganz normal arbeiten, das ist nicht das Problem, aber wenn ich die letzte Bewerbungsrunde sausen lasse, war alles für die Katz.»
«Was, noch eine Runde?»
Sie nickte. «Ja, noch eine letzte. Ich weiß das selber erst seit ein paar Tagen. Das war auch so nicht eingeplant.»
Ich sah sie an. «Aber Anna …»
«Was?»
«Es ist nur ein Job.»
«Ja, es ist ein Job. Einer, für den ich monatelang gearbeitet hab.»
Sie schüttelte den Kopf, ganz leicht, den Blick wieder auf den Tisch gerichtet.
«Denkst du nicht, dass sich da was machen lässt? Bei einem Todesfall drücken die vielleicht ein Auge zu, können den Termin verschieben oder so.» Ich versuchte zu lächeln.
«Ich bezweifle es, Malte. Die Tour beginnt ja schon in ein paar Tagen, und die suchen nur wen Neues, weil der alte Szenograf kurzfristig abgesprungen ist. Wenn ich da nicht auftauche, kann ich es vergessen.»
«Ich weiß, wie sehr du dich dafür abgerackert hast.»
Sie lächelte traurig. «Ich hab mich die letzten Tage schon darüber gefreut, dass das alles in zwei Tagen vorbei sein würde. Immerhin wäre dieser ganze Stress dann vorüber und ich wüsste, woran ich wäre.» Sie zögerte, sagte dann: «Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt die Kraft hätte, nach Zürich zu fahren, Malte. Dort seine Eltern wiederzusehen, die ich jahrelang fast täglich gesehen habe.»
Ich nickte. Ich bemerkte die hellrote Haut an ihrem Hals, ganz leichte Flecken, die man erst auf den zweiten Blick sah und die immer da waren, wenn sie aufgeregt war, wenn sie etwas durcheinanderbrachte. Ich sah, wie sie ihr Glas hielt, den Ellbogen auf dem Tisch und den Unterarm ungelenk nach außen abgewinkelt. Den kleinen Finger die ganze Zeit abgespreizt wie die filmischen Abklatsche der englischen Damen beim Tee, sie hielt das Glas immer so, ganz egal welches und ganz automatisch, jedes Mal, wenn sie nicht wusste, was sie tun sollte. Jetzt gerade sah ich all diese Dinge, die sonst so unscheinbar waren.
Ich wollte aufstehen. Ich wollte sie nochmals umarmen, ihre Haut berühren. Ihr einen Kuss geben, einen richtigen dieses Mal. Nicht wie vorhin, als ich hereingekommen war und sie bereits an diesem Tisch saß und alles nur aus Gewohnheit war, weiter nichts. Ich sah mich um, es war ein normales Café voller Leute, die einander gegenübersaßen und sich nicht rührten. Sie standen nicht auf und küssten sich nicht und nahmen sich auch nicht in den Arm. Ich blieb sitzen.
«Aber du solltest gehen», sagte sie dann. «Nach Zürich.» Sie sah mich an, versuchte zu lächeln. «Also, wenn du möchtest.»
Ich nickte, wusste nicht, was ich sagen sollte. Dann wieder Stille, wir sahen beide zur Seite. Ich las die Überschrift eines Zeitungsartikels an der Wand: «Werther-Effekt – Selbstmordwelle erschüttert das Land.» Ich schaute genauer hin und sah, dass der Artikel schon einige Jahre alt war.
«Was ist denn?», sagte Anna und kniff die Augen zusammen.
«Nichts», sagte ich. Das Geräusch eines laut aufheulenden Motors drang in das Innere des Cafés. Es hallte lange in meinen Ohren nach. Ein Autounfall, eine Sache weniger Sekunden. Man trinkt ein paar Bier und denkt nicht weiter nach. Es ist dunkel, und es regnet. Ein fehlender Blick, ein defektes Fahrlicht, ein falscher Schritt, der einen umbringt. Und man wird zerquetscht, das Auto überrollt einen und schert sich einen Dreck um den, der unter ihm liegt. Es war zum Lachen, nichts als ein schlechter Witz. Finn hätte wahrscheinlich gelacht, aber ich konnte nicht.
Ich stellte ihn mir vor. Ein lebloser Körper, der auf dem Rücken lag am Straßenrand, die Ellbogen gebrochen, die Arme verdreht. Die Fahrer der Autos, die an ihm vorbeifahren, würden in dem Dunkel nichts bemerken, und Finns Körper würde zunehmend kälter werden. Sie würden das Lenkrad mit einer Hand halten, auf die Straße schauen und an ihr Zuhause denken oder wo sie sonst gerade hinfuhren. Sie würden dem gleichmäßigen Geplärre des Radios lauschen und vielleicht mit dem Kopf dazu nicken. Und der Regen würde auf Finns Körper prasseln.
Anna berührte mich mit ihren Fingern an der Hand, ohne etwas zu sagen. Ich fragte mich, weshalb sie ihre Hand auf meine legte und es nicht umgekehrt war. Dann nahm sie einen Schluck von ihrem Eistee und stellte das Glas auf den Tisch. Ich sah den dunkelroten Abdruck ihres Lippenstifts.
«Wie geht es Ben und Vanessa?», fragte sie. Sie nannte Nessa aus irgendeinem Grund immer bei ihrem vollen Namen.
«Ich weiß es nicht, den Umständen entsprechend, denke ich. Du weißt, dass ich lange nichts mehr von ihnen gehört habe.»
Sie nahm wieder einen Schluck ihres Eistees, sie trank so langsam.
«Du solltest wirklich gehen, Malte. Sie werden sich freuen. Ich muss ja nicht unbedingt dabei sein. Und du weißt, dass Ben und ich nicht gerade gut miteinander auskommen.»
«Ich weiß, dass du Ben nicht magst», sagte ich. «Ich versteh das auch, ich muss auch nicht ständig mit ihm abhängen, um ehrlich zu sein, aber du tust ihm unrecht. Er ist eigentlich echt in Ordnung», sagte ich und dachte an unsere Zeit zu fünft am Meer, an Finn, der vom Nachhilfeunterricht in der Grundschule sprach und dann nicht mehr weitersprechen konnte. Und wie Nessa ihren Arm um ihn legte und an Bens starren Blick, der alles wusste und der