Sechs Jahre später erhält der Glaser in Cambrai einen weiteren Brief mit der Botschaft eines andern Todes. Dieser Brief ist in der wunderschönen Schrift des Pfarrers geschrieben, eines gewissen Giorgio Antonio Leoni di Rivapiana di Minusio: «Von Eurer guten Frau Maria Angela habe ich den Auftrag bekommen, Euch wissen zu lassen, dass am 7. dieses Monats Euer Sohn Battistino und Eure Schwägerin Maria von einem akuten Fieber befallen wurden. Der kleine Knabe überstand es gut. Aber die Schwägerin hörte am 15. des obgenannten Monats, versehen mit den üblichen Sterbesakramenten unserer heiligen Kirche auf zu leben und bezahlte dem Tod ihren Tribut … Angesichts dieses Unheils wurde Eure Gattin Maria Angela von einem so lebhaften und jähen Schmerz gepackt, dass sie, wie wir es stark befürchteten, innert weniger Stunden beinah erstickt wäre. Man hatte ihr schon die heilige Wegzehrung gebracht. Als wir ihr dann aber zu verstehen gaben, wir seien nur für den Himmel geschaffen worden und nicht für diese Welt … und als wir ihr, sage ich, diese und andere nützliche Wahrheiten eingetrichtert hatten, erholte sie sich etwas. Sie fing sich wieder auf, so dass sie sich jetzt langsam wieder in gutem Zustand befindet. Nichtsdestoweniger sieht sich die gute Frau sozusagen allein, ohne einen Menschen, dem sie wahrhaft vertrauen könnte und der sie richtig zu trösten vermöchte. Ich befürchte deshalb, dass sie unter diesen Umständen viel leidet und sich kümmerlich durchschlägt.
Deshalb rate ich Euch, lieber Sohn in Christo, Eure Rückkehr in die Heimat so rasch wie möglich zu beschleunigen. Dies ist auch der Wunsch Eurer geliebten Gefährtin, welche sagt, sie habe keine andere Hoffnung und keinen Trost mehr auf dieser Welt als Euch. Dasselbe verlangen auch die Angelegenheiten und die gute Führung Eures vermögenden Hauses, besonders in diesem Jahr, denn die Felder stehen bis anhin gut und versprechen reiche Ernte an allerlei Früchten …» Und der gute Priester fügt seinen Grüssen diejenigen aller Verwandten bei, ferner der Eltern der drei Jungen, die der Glaser Rusconi unter sich hatte, unter denen sich auch der Bernardo Papina aus dem erwähnten Lehrvertrag befindet.
Der Brief des Pfarrers ist vom 19. August 1778 datiert. Vom 19. Dezember desselben Jahres, und zweifellos von diesem Brief angeregt, stammt eine Art Pass, in dem «Prévost, échevins, et magistrat de la ville, cité & duché de Cambrai» erklären, dass «François Ruschon, natif de Locarno en Suisse, demeurant en cette ville depuis seize ans environ», in seine Heimat zurückkehre, «pour vacquer à ses affaires». Es folgt eine Empfehlung, ihn frei passieren zu lassen. Der Ärmste eilte heim, um die verzweifelte Gattin zu trösten.
Sein Schwiegervater, Giacomo Antonio Bianconi, muss – immer im Verhältnis zur Zeit und den Gegebenheiten des Dorfes – eher wohlhabend und sein Haus vermögend gewesen sein, wie es auch der Priester Leoni in dem genannten Brief erwähnte. Bevor seine Witwe starb, verfügte sie, «denn sie war eine Frau mit einer Erbschaft und besass Vermögen», über ihr Vermächtnis von 25 Talern: für einen Sack Salz, das in der Gemeinde verteilt werden sollte, sowie zwei Socche oder Kleider. Das Übrige sollte für Messen zur Rettung ihrer Seele verwendet werden. Dies wurde, als sie tot war, befolgt. Das beteuert derselbe Priester Giorgio Antonio Leoni «de Ripaplana loci Minusji» im März 1781. Man muss sich vergegenwärtigen, dass das Salz damals eines der wenigen Lebensmittel war, die man notwendigerweise kaufen musste. Dann begreift man die Bedeutung der zahlreichen Hinterlassenschaften für das «Salzvermächtnis».
Francesco Rusconi kann somit nicht mehr gar so jung gewesen sein, als er 1785 noch einmal nach Frankreich reiste. Vorsichtigerweise dachte er, bevor er sich auf die Reise begab, daran, sein Testament zu machen. Dieses Testament wurde beim stellvertretenden Pfarrer von Mergoscia, Giov. Domenico Giovannoni, vor Zeugen hinterlegt. Wir müssen erwähnen, dass die Alten darauf achteten, ihre Angelegenheiten richtig, nach allen Regeln und eindeutig zu erledigen, denn es lag ihnen viel an ihrem Besitz, ihrer Familie und an der Fortdauer ihres Hauses.
«Da es Pflicht eines guten Katholiken ist, immer auf den Tod vorbereitet zu sein … und da Francesco, der Sohn des Giacomo Ruscone von Mergoscia, im Kirchenspiel Locarno und der Diözese Como dies gut begriff, hat er es vor seiner Abreise nach Frankreich … für richtig erachtet, sein Testament zu machen.» Nachdem er an seine Seele gedacht hat, erklärt er, falls er sterben müsse, sei seine Witwe Angiola Maria «Frau und alleinige Meisterin seiner ganzen Habe, wie sie auch immer sei …» Doch müsse sie die Witwentracht tragen, als ehrbare Frau leben und in ihrem eigenen Hause mit ihren Kindern wohnen bleiben. Und so weiter, zwei dicht beschriebene Seiten in der winzigen Schrift des stellvertretenden Pfarrers, ein minutiöses Verzeichnis der Rechte und Pflichten der Überlebenden: Der Vormundschaft über die Kinder, sowohl im Fall, da sich die Witwe wieder verheirate, wie auch im Fall ihres Todes. Jede Möglichkeit war vorgesehen und geordnet. Und das Ganze war mit der Unterschrift des Priesters, dreier Zeugen und des Erblassers rechtsgültig versehen. «Ich, Francesco Ruscone, bestätige das Obenstehende», steht dort in dicken und plumpen Druckbuchstaben. Dazu gehört ein Empfehlungsbrief des Priesters Giovannoni, der besagt, Rusconi sei ein Mann von guten Sitten, ein echter Katholik, klein gewachsen, blond, mager und ein Stotterer; und er gehe «ad artem suam vitrarij exercendam in Gallia».
Ausser dem Battistino, den im Jahre 1778 jenes akute Fieber gepackt hatte, besass Francesco Rusconi noch einen andern, im Jahre 1783 geborenen, jüngeren Sohn, Giuseppe. Dieser war somit kurz vor des Vaters Abreise nach Frankreich zur Welt gekommen, und muss irgendwie das schwarze Schaf der Familie gewesen sein, ein Tunichtgut, wie man damals sagte und auch heute noch sagt, «immer und wie gewohnt ein Tölpel», sagt ein Enkel im Jahre 1840 von ihm. Anno 1807 liess er sich auf Kosten der Gemeinde Sorengo «unter die Fahnen seiner kaiserlichen Majestät Napoleon, des Kaisers der Franzosen und Königs von Italien» anwerben, wie aus einer rechtsgültigen Akte hervorgeht, die ihn für vier Jahre verpflichtete. Doch hatte anscheinend die Sache keine Folgen. Er hielt sich im Wallis, in Sierre und in Sion auf. Die Gattin hatte er zu Hause gelassen. Er betätigte sich als Kaminfeger und in wer weiss was für anderen Berufen …
Von einem seiner Briefe an den Bruder lohnt es sich, die Adresse wiederzugeben: «Über briggo und über dom dossela und über intra und canobio und locarno zuhanden von Gian Battista Ruscone aus Mergoscia.» Und eine andere «Adresse» einer nach Frankreich gesandten Botschaft lautet: «Signor Francesco Roscone Lucerna Onenhc (?) über Paris nach Cambre in Flandern Absteigequartier Breguzon in der Gegend der Glaser.» Wie solche Briefe zugestellt werden konnten, ist für uns, die wir nun an «Postleitzahlen» gewöhnt sind, schwierig zu verstehen …
Ein Enkel des Francesco und Sohn des Battista Rusconi ist Gottardo, der noch jung, im Jahre 1833, dem Jahr der von der Gemeinde besorgten Inventur, sterben musste. In der Inventur ist das armselige Hausgerät in einem dem Italienischen nachgebildeten Dialekt aufgeführt: «Eine Kufe, zwei Töpfe, ein Weinfass, ein Kessel, eine Schüssel, drei Wärmepfannen, eine Kupferpfanne, ein Butterfass und ein Weinmass, zwei Holzschemel fürs Wasser, zwei Beile, zwei Hippen, ein eiserner Hammer und eine Hacke, eine Schaufel, eine Heu- oder Mistgabel», und so weiter, mit dem Haus, den Ställen in den verschiedensten Gegenden und Hügeln, die Wiesen, die Wälder, die Bäume.
(Man bedenke: Wenn der frühzeitige Tod des Vaters das Haus betrübt zurückliess, so gehörte dazu auch die gewohnte und in ihrer Art barbarisch grossartige Zeremonie der Totenwache. Im Haus des Toten vereinigten sich die Leute – Requiems und Rosenkränze, die dann sachte in Scherze und Witze hinüberglitten. Man ergab sich dem Trinken und dem übermässigen Schlemmen, bis alle Vorräte ratzekahl aufgegessen waren. Man schnitt wohl gar der einzigen Ziege die Kehle durch und prasste in rauen Mengen. Man feierte das Leben neben dem Toten, der in seinem Sarg ausgestreckt dalag.)
Gottardo Rusconi starb 1833 und hinterliess eine trostlose Witwe mit einer