Der Stammbaum. Piero Bianconi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Piero Bianconi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783038551225
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das rasche rhythmische Sensendengeln, marlà. Ich frage ihn, was für ein Ton das sei. Er weiss es nicht, vielleicht ist es ein Steinmetz, vielleicht einer, der Nägel einschlägt, wer weiss … Er kennt jenen so typisch sommerlichen Ton nicht mehr. Für uns ist es wie das Zirpen der Zikaden in wärmeren Ländern, dieses nachhaltige Klopfen, leicht und rasch und auf seine Art wohlklingend, eindringlich in dem grossen Licht. Wie rasch das Leben seine Zeichen auslöscht, wie es sich erneuert und die Bedingungen verändert! Aber so wie Lorenzo jenen sommerlichen Klang nicht mehr kennt, so kenne ich mich nicht aus in Dingen, die ihm vertraut sind. Das steigert das Gefühl der Einsamkeit, der Vereinzelung in jedem von uns. Die Alten stehen auf der einen Seite, und die Jungen auf der andern. Wände, Abdichtungen, unübersteigbare, trennen sie.

      Deshalb bin ich darauf bedacht, Erinnerungen wieder aufzuspüren, alle möglichen Erinnerungen, selbst kleine, selbst winzige, die mir helfen sollen, rückwärtszugehen (wie eine Spur, wie die weissen Steinchen des Däumlings, die ihn nach Hause zurückführten), um die Wurzeln meiner selbst wiederzufinden, um mich endlich zu erkennen und mich in meinem verwirrten Dasein zu begreifen.

      Ich muss wieder einmal nach Mergoscia hinaufwandern (von hier aus erkennt man nur die Spitze des Kirchturms, der zwischen den Kastanien hervorlugt und der einst die amerikanische Flagge trug, stripes and stars), um mir die vielen, nach Übersee Ausgewanderten in Erinnerung zu rufen. Um Mergoscia richtig zu sehen, muss man auf seiner Strasse hinaufgehen, auf der Strasse, die nur und ganz ihm gehört und auf dem ländlichen Platz vor der Kirche aufhört. Von der Strasse aus erscheint das Dorf ganz ausgebreitet, in seinen verstreuten Teilen, mit seinen einzeln stehenden Häusern. Es ist ein ganzer Ameisenhaufen von Häusern und Ställen, aufgefächert und ausgelegt wie ein graues, weiss gesprenkeltes Linnen auf den Schultern des Berges. Ein Ameisenhaufen von Häusern, Häuschen, Loggien und Altanen und Fensterchen, die neugierig weissumrandet aus dem rauen Grau der Trockenmauern herausschauen. Es ist ein neugieriges Dorf und sonderbar mit Augen besetzt, man fühlt sich beinah verlegen unter so viel Augen. Und zwischen den einzelnen Teilen die unendliche Geduld der Mäuerchen, die wenige Spannen karger Erde stützen, und die parallelen Reihen der kleinen Sackgassen, wie biegsame emsige Höhenlinien (allerdings setzen jetzt et­liche Neubauten Flecken geweisselter Mauern und roter Ziegel ins untadelige Grau von einst. Man bekommt Lust, die Augen zu schliessen, damit das alte Bild nicht gestört wird, das sich dem Gedächtnis auf vertraute Weise eingeprägt hat).

      So sieht man Mergoscia, wenn man auf der Strasse steht, rechts vom Mühlbach. Ist man aber erst einmal dort oben angekommen – zwischen dem Gasthaus, dem Gemeindehaus, dem Beinhaus und der Kirche –, dann atmet man einen grossen Frieden. Es ist, als stünde man auf einem sonnigen Balkon. Kaum ist man um die Kirche herumgegangen, die, wie auch das Beinhaus, von Grab­steinen übersät ist, kommen wir zum Kirchhof, wo meine Vorfahren in Frieden schlafen, die Alten, die ich auf der dünnen Spur der Erinnerung wiederzufinden suche.

      Monsignore Feliciano Ninguarda, Bischof von Como, bemerkte bei seinem pastoralen Besuch (1591), dass das Dorf hundert Herde zählte, «und sie sind reich, doch bei all dem haben sie keinen Pfarrer und keinen Kaplan». Im Jahre 1790 zählte Mergoscia 752 Einwohner. Jetzt erreicht die Bevölkerung mit Müh und Not 120. Allerdings bevölkert sich das Dorf langsam wieder, besonders im Sommer, aber meist sind es Deutschschweizer, welche die leeren Häuser bewohnen. Sie modernisieren sie, sie kommen herauf, um die Sonne zu geniessen. Sie antworten auf den Ruf der Leere, sie nehmen überhand. Man sagt mir, vor einigen Jahren sei die Erstaugustrede auf der Piazza in deutscher Sprache gehalten worden. Zwei Schritte von den Häusern im «Benitt» entfernt, mahnt eine Tafel in deutscher und französischer Sprache: «Ab­fäl­le wegwerfen verboten» («Dépôt de déchets interdit»). Das klingt, optimistisch betrachtet, nach einer Einladung, unsere Landessprachen zu lernen. Wenn es nicht eher eine Beleidigung für die verschwundenen Einheimischen ist …

      Es gibt keinen Pfarrer mehr. Und der Lehrer der weni­gen Knaben ist ein Süditaliener, aus Caltagirone oder Catanzaro soll er herstammen. Und das ist der, fast möchte man sagen sinnbildliche, Zustand vieler, allzu vieler unter den Dörfern unseres Tals. Wenn das so weitergeht, werden wir uns innert kurzem nicht mehr daheim fühlen, sondern im Exil zwischen Deutschen und Süditalienern. Wie grausam unbeheimatet mussten sich die Bewohner von Mergoscia vorkommen, die einst auf den Strassen der Welt sich zurechtfinden mussten, unwissend in allem, besonders in der fremden Sprache, eingemauert in ihre gedemütigte Einsamkeit.

      2

      Mergoscia

      März 1966

      Ich bin nach Mergoscia hinaufgestiegen, denn mich verlangte darnach, etwas aus der Vergangenheit wiederzufinden; nicht nur Erinnerungen an mich als Knaben, der ich ab und zu ein paar Wochen dort oben verbrachte, und der ich oft hinging, um die Grosseltern und die Onkels zu besuchen. Jetzt aber finde ich mich zwischen den Häusern des hochgelegenen Weilers, im «Benitt», wo meine Vorfahren lebten und von wo meine Eltern herkamen, nicht mehr zurecht. Von den Leuten, die ich dort kannte, blieben kaum zehn Personen übrig, und sie bieten keine Gewähr für Nachkommenschaft. Die Feuerstellen in den Häusern sind dazu bestimmt, zu verlöschen. Zwischen den verlassenen Häusern ohne Dächer, die Mauern sind oft gut gebaut, aber sie stürzen trotzdem entmutigt ein, zwischen jenem strengen Grau des Steins und den Schornsteinen, die seit Jahrzehnten nicht mehr rauchen, steht ab und zu ein wieder aufgebautes oder auch ein ganz neues Haus, und zwischen dem abgestuften Silbergrau der Steinplatten sind rote Flecken von Ziegeln zu sehen. Von dieser Handvoll Häuser, sagt man mir, sind gut fünfzehn im Besitz von Deutschschweizern, die hier ihre Ferien verbringen; ja einige wohnen sogar dauernd hier.

      Es ist März. In einem dunkeln und feuchten Durchgang zwischen den Häusern blüht Seidelbast, ein schmächtiges Zweiglein mit seinem lieblichen Duft. Draussen in den abschüssigen Wiesen steigen hellblaue Rauchsäulen auf. Man hört niemanden, nur das Aufflattern eines Vogels. An einigen Stellen erkenne ich noch die abgewetzten Steine, geglättet von unendlich vielen Schritten; jenen bläulichen, weiss geäderten, und die Treppenstufe, die unter dem Fuss wackelt wie vor sechzig Jahren. Und das hier sind die Stufen, auf denen die genagelten Schuhe des Grossvaters erklangen, worauf denen im Haus die Worte im Mund erstarben. Ich finde tausend Dinge wieder, aber das Bild von einst finde ich nicht mehr. Das Weiss des Verputzes blendet im sonnigen Hof des Grossvaters Rusconi und verjagt die dünnen Schatten der vielen Toten. Alles ist viel zu sauber. Und auch der Geruch ist derjenige fremder Leute. Es bleibt nur das naive Fresko auf der Mauer, die Mutter Gottes, die den toten Sohn im Schoss hält und die einst einer meiner Vorfahren im 18. Jahrhundert malen liess.

      Ich stehe da und suche ein Zeichen aus früheren Zeiten, einen Hinweis, der mir die erschreckende Last der Vererbung erklärte, diesen Wirrwarr aus Müdigkeit und Kraft, aus Kühnheit und Zaghaftigkeit, aus Bosheit und untätiger Güte, die mein Wesen ausmachen. Ich suche etwas, das mir erklärte, weshalb ich auf den Schultern so etwas wie eine unendliche, auf der Spitze stehende Pyramide von Menschen zu tragen meine: Eltern, Grosseltern, Urgrosseltern, Vorfahren ohne Antlitz, eine ganze anonyme Masse. Und weshalb ich ein erdrückendes Gewicht verspüre, körperliche und geistige Lasten, lang vergangene Falten und Wunden, die ich nicht beseitigen kann. Es ist ein Eindruck, der mit den Jahren immer stärker wird. Die oberflächlichen Anwandlungen, der dünne Firnis der Erziehung und Erfahrung, die weniger wesentlich sind, als man glauben möchte, verschwinden. Etwas Tieferes und Wahreres enthüllt sich. Eine geheime Schichtenbildung, fast so etwas wie eine moralische Geologie, kommt zum Vorschein. Wiederum müssen Schmerzen erlitten werden, die unheilbar bleiben, weil sie alt und anonym sind, und ebenso Demütigungen, Leiden und Mühsale. Wiederum müssen die Knochen alle Müdigkeiten der Ahnen erfahren. Und es gibt keine Ruhe, die sie stillen könnte. Sie sind im Blut, zuinnerst im Fleisch.

      In den Häusern der Bianconi, der Grosseltern väterlicher­seits, ist nichts mehr vorhanden, weder Papiere noch ­ir­gendein anderer Hinweis oder ein Schriftstück. Die Häuser sind veräussert worden. Alles ist zerstört. Die we­nigen Papiere wurden von fremden Händen dem Feuer überantwortet.

      Als Knaben gingen wir oft unsere Tante Nina besuchen, die dort allein lebte. Sie war klein, ein wenig verkrümmt, wachsgelb und hatte einen einzigen grossen blanken Zahn im Mund. Sie allein war übrig geblieben, um den Herd zu hüten. Über dem Feuer stand andauernd der bronzene Kaffeetopf. Und dort flüsterte sie ihre Requiem eterna