Der Stammbaum. Piero Bianconi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Piero Bianconi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783038551225
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Geschichte armer Leute, welche durch die Welt zogen, mit nichts anderem bewehrt als ihren Armen, lauter Tagelöhner am Anfang, dazu verurteilt, den Esel zu spielen, wie der Grossvater Barbarossa schreibt, und sich mit elenden Löhnen zu begnügen. Sie kannten die Sprache des fremden Landes nicht und waren in ihre blasse, schweigsame Mühsal eingemauert. Es sind magere Briefe, gewöhnlich wenig mehr als ein Gestammel, und sie kamen selten ins Haus, wo sie gierig erwartet wurden. Manchmal lagen Jahre des Schweigens dazwischen. Sie beginnen alle mit dem stereotypen Anfang, der unverändert blieb und eigentlich sinnlos war: «Ich gebe euch Nachricht von meiner guten und erfreulichen Gesundheit und hoffe zu Gott, dass auch ihr gesund seid.» Es muss eine Formel gewesen sein, die sie in der Schule gelernt hatten, wer kann sagen, wie man dieses «erfreulich» erklären soll. Denn wenige Zeilen weiter unten sprechen sie von elendiglicher Gesundheit, von Krankheiten …

      Man spürt die Behinderung der Hand, die nicht an die Feder, sondern an die Spitzhacke gewöhnt war, und die Schwielen trug vom Melken der Kühe, unendlich vieler Kühe. (Und ich erwerbe mir hier Schwielen an den Fingern, indem ich die Tasten der Schreibmaschine betätige …) Oft besassen sie nicht einmal die materielle Möglichkeit zu schreiben. Sie lebten draussen an abgelegenen Orten, in weit entlegenen «Ranches». Doch nur selten sprechen sie von der Mühsal, von dem langen Arbeitstag, der begann, wenn die Sterne verblichen und mit dem Auftauchen der Sterne endete, oder von den Demütigungen, von der Einsamkeit; denn sie waren nicht fähig, sich mitzuteilen, oder mochten vielleicht auch die Lieben zu Hause nicht beunruhigen. Sie sprechen vom Wetter, diesem fundamentalen Thema, dieser immerwährenden Sorge, vom Wetter, welches die guten oder schlechten Ernten bestimmt. Von Monaten eintönigen Lebens, von endloser Trockenheit, von aussergewöhnlicher Kälte und so weiter. Sie sprechen von ihren Landsleuten, von den Patriotti, die sie ab und zu treffen, von irgendeiner frohen Stunde, die sie gemeinsam verbringen, von jemandem, der – angelockt von dem fernen Schimmer des Goldes – herüberkommt (und immerzu kamen welche herüber), und der Nachrichten bringt von zu Hause; von einem Gefährten, der zufrieden oder enttäuscht abreist und von der ewigen Sorge ums Geld, von – verglichen mit der Mühe – mageren Löhnen. Und wenn sie zu Anfang ein paar Batzen zusammensparten, geschah es, weil sie rein nichts ausgaben, weil sie sich bis zum Letzten mit wenig begnügten, um die Reiseschuld abzahlen zu können. Die Summe wurde ihnen gewöhnlich von der Gemeinde vorgestreckt. Und um etwas nach Hause schicken zu können, damit die Zurückgebliebenen fröhlich seien. Oft beklagen sie sich über fehlende Arbeit, über elende Jahre, in denen sie keinen Rappen beiseitelegen können. Es sind Briefe, die sich um wirtschaftliche Fragen drehen. Aber nie erklingt ein Aufschrei der Empörung oder eine Verwünschung. Es ist die stumme Hartnäckigkeit der Ameise: schweigen und büffeln. Nie ein Jammern, ausser über die ersten Zeiten, weil sie die Sprache nicht können, was sie inmitten der Leute grausam isoliert. Ein Einziger, den ich kenne, gab der Verzweiflung Ausdruck, er begann zu trinken. Er sagte, er habe so viel Whisky getrunken, «dass man damit einen ganzen Monat lang eine Mühle hätte treiben können». Aber er zog sich recht gut aus der Schlinge und kehrte in die Heimat zurück. Und als er, noch nicht alt zwar, aber doch recht gesetzt geworden war, trank er nur noch den herben heimatlichen Wein. Denn man muss sagen: Wenn sie erst einmal wieder zu Hause waren, liessen sie sich, auch wenn sie ein paar Batzen in der Tasche hatten, rasch von dem einstigen Leben wieder einfangen und begannen zu schuften und zu schwitzen wie früher. Schnell nahmen sie die einstigen Gewohnheiten wieder an und taten nichts, um das frühere Leben ein bisschen zu verbessern. Doch machten sie sich Luft, indem sie die Länder «dort drüben» in den Himmel lobten, als wären diese ein verlorenes Paradies … Öfters kauften sie sich auch ein kleines Gütchen, einen Weinberg und ein Haus, draussen in Minusio oder in Tenero, wie dies der Grossvater Rusconi ungeachtet seiner andern Güter tat, und auch, und zwar endgültig, mein Vater.

      3

      Aus den alten Papieren

      Die älteste Persönlichkeit, die aus diesen alten, manchmal schwer leserlichen Papieren (Verträgen, Bekennt­nis­sen, Inventaren und Dokumenten) deutlich wird, ist Francesco Rusconi, der Sohn des Giacomo, der im Jahre 1769 Angiola Maria, die einzige Tochter des Giacomo Antonio Biancone, heiratete. Dies geht aus dem Vertrag hervor, der in Locarno vom Notar Antonio Felice Rusca aufgesetzt wurde, «in meinem Notariatsbüro unterschrieben», und zwar im Beisein von zwei Metzgern, von zwei anderen Zeugen und zuvor von Valerio Baciocco als Vertreter des Kommissars Schmid aus Schaffhausen. In diesem Dokument bestimmt Biancone als Mitgift für seine Tochter fünfzig Locarneser-Taler, und dazu die «Aussteuer, die zum Gebrauch und zur landläufigen Anwendung passt», und ernannte sie (falls er keine weiteren Kinder mehr bekomme, wie es dann auch tatsächlich der Fall war), zu seiner Gesamterbin. Er verpflichtete dabei die Neuvermählten und ihre Nachkommen dazu, in alle Zukunft «den Herd des genannten Bian­cone zu erhalten» und sich seines Hauses zu erfreuen, das niemals weder mit Hypotheken belastet noch verkauft werden durfte. Und so blieb es fast zwei Jahrhunderte lang. Die Rusconi liessen sich im Haus des Iacomo Antonio Biancone nieder. Noch heute kann man seine Initialen auf einer naiven «Pietà» erblicken, die, als Fresko mit der Jahreszahl 1756 versehen, die Mauer ziert. Dieselben Buchstaben i. a. b. stehen auch am untern Rand des kleinen Fensters daneben. Allein, schliesslich wurde der hartnäckige Wille des alten Bianconi nicht mehr ­respektiert. Das Haus (das für uns immer dasjenige der Grosseltern Rusconi blieb) ging wieder in den Besitz eines Bianconi über und gelangte am Ende gar in die Hände von Deutschschweizern, die alles gesäubert, übertüncht und lackiert haben. Man findet dort jetzt nichts mehr wieder, ausser der Sonne im offenen Hof und auf dem Pfeiler der Loggia die Inschrift: «1888, am 26. Februar, Schneehöhe 2.20 m.» Doch die Schatten der Alten sind nunmehr verschwunden.

      Jener Iacomo Antonio Biancone sah somit sein Geschlecht erlöschen. Er muss reich gewesen sein. Sicherlich stammte er von einem andern Zweig als dem unseres Grossvaters väterlicherseits; denn diese Familie war arm wie Kirchenmäuse …

      Die Bewohner von Mergoscia sind zu jener Zeit in alle Himmelsrichtungen ausgewandert. (In der Kirche steht noch jetzt ein silbernes Kreuz, das von Auswanderern aus Florenz mitgebracht wurde, und das die Jahreszahl 1650 trägt.) Sie waren Scherenschleifer, Kaminfeger, «Hausierer» (das heisst umherziehende Verkäufer von Schnittwaren und Glasperlen und bunten Fensterscheiben), sowie Glaser. Der Francesco Rusconi des erwähnten Ehevertrags war Glaser und übte sein Handwerk in Frankreich, in Cambrai, aus, und zwar zusammen mit seinem Bruder Battista, der jedoch zu einem gewissen Zeitpunkt auf diesen Beruf verzichtete, da er für ihn «allzu beschwerlich» war.

      Es waren jedoch keine armseligen, umherziehenden Glaser, sondern ernsthafte, fest ansässige Handwerker. Sie besassen eine Werkstatt und unterrichteten Lehr­linge. Dies geht aus einem Lehrvertrag hervor, der im August 1777 zwischen den beiden Brüdern Rusconi und einem Giov. Antonio Papina abgeschlossen wurde, «alle drei aus Mergoscia, bei Anlass und Gelegenheit, da Bernardo, der Sohn des obgenannten Papina, sich unter die Leitung der erwähnten Rusconi begibt, um das Handwerk eines Glasers unter vorteilhaften Gegebenheiten und zwar folgendermassen zu erlernen»: Der Meister verpflichtet sich, dem Jungen das genannte Handwerk beizubringen, «während 3 ½ aufeinanderfolgenden Jahren, wie es bei ähnlichen Verträgen Brauch ist»; ihn, falls er krank werden sollte, vierzehn Tage lang zu pflegen, und wenn seine Lehrzeit um wäre, «ihm die Aussteuer auszurüsten, und zwar nach den Gepflogenheiten dieses Handwerks ihm gratis das nötige Werkzeug für den Beruf eines Glasers zu geben, mit Ausnahme der Strippe, zu der er nicht verpflichtet ist; ihn einzukleiden, nach Massgabe der Kleidung, in der er jetzt von zu Hause her­kommt». Dagegen kommt der Vater des Jungen für allen und jeden Schaden auf, den der Sohn verursachen könnte; ferner garantiert er für die Rechtschaffenheit, den Gehorsam und die Treue «sowohl der Hand als auch der Rede» seines Sohnes.

      Aus den spärlichen und mühsamen Briefen ergibt sich vor allem eine Klage, die im Mund der Auswanderer immer wiederkehrt: die grausamen Bedingungen, welche die Unkenntnis der Landessprache mit sich bringt. «Ich hoffe, es werde gut gehen», berichtet 1777 ein Brief aus Cambrai. Es ist sicher nicht unnütz, ihn wiederzugeben, wenn auch zur Erleichterung des Verständnisses mit einem Minimum an Verbesserungen: «Der ganze Kummer, den ich hier habe, kommt daher, dass wir kein Französisch verstehen. Es ist als seien wir mitten unter (zwei unleserliche Worte), wenn man die Grillen zirpen hört. Da schaut zu, ob ihr versteht, was es heisst. Es ist eben französisch …»

      Briefe,