Sie trug noch die alte Tracht, den Rock und die Schürze dicht unter der Brust gegürtet, und das kurze Mieder, das sich über dem Weiss des aus Hanf gesponnenen Hemdes öffnete. Sie war Asthmatikerin und verbrachte ganze Sommernächte unter einem grossen Birnbaum neben dem Haus. Immer empfing sie uns voller Freude, immer hatte sie einen Apfel, eine Birne oder eine Handvoll gerösteter Kastanien für uns bereit. Sie wunderte sich nie, wenn sie uns unversehens kommen sah: «Ich wusste, dass jemand kommen würde; heute Morgen hat das Feuer gepustet!» Dort neben dem Feuer kauerte sie und hörte ihm zu und deutete es. Auch sprach sie mit den Toten und den weit entfernt Lebenden, mit den Brüdern, die sich dann und wann ihrer erinnerten. Mein Vater hielt ihr immer ein kleines Fässchen voll Wein bereit. Sie starb im Jahre 1922, als sie 68 Jahre alt war.
Auch vom Grossvater Francesco Bianconi, dem Pà Cecc, gibt es eine vergrösserte Fotografie. Eine andere Erinnerung habe ich nicht an ihn. Er starb im Jahre 1904, als ich fünf Jahre alt war. Er war 84 Jahre alt geworden. Es ist in unserer Familie zur Gewohnheit, ja, fast zur streng eingehaltenen Tradition geworden, sich spät zu verheiraten. Das dehnt und verlängert die Intervalle zwischen den Generationen und schafft erschreckend grosse Abstände … Aus dem Bildnis schaut mich ein schönes, klares, heiteres Gesicht an; der Mund ist ein bisschen ironisch, die Stirn ist hoch, und das Haar fällt lang zu beiden Seiten des Kopfes herab. Auch er hatte versucht, das Glück zu erproben, aber es war ihm nicht gelungen. Er hatte sich nach Australien eingeschifft, doch war er eiligst wieder zurückgekehrt, vielleicht sogar auf demselben Segelschiff, und hatte somit nichts nach Hause gebracht als die Schulden für die Reisespesen, die Musse langer Monate auf dem Meer und die verlorene Zeit.
Er war ein scheuer und sanfter Mensch. Als Scherenschleifer zog er durchs Land, besonders durch die Täler bei Lugano, wo bis vor einigen Jahren die Alten sich seiner noch erinnerten. Mit seinem Schleifrad schlief er in den Heuschobern und sparte sich alles vom Munde ab, um die Familie durchzubringen: jeden Becher Wein, jeden Bissen, der nicht unumgänglich nötig war. Als er dem Haus ein paar kleine Kämmerchen anbauen lassen musste, weil die Kinderzahl wuchs, mass er die Höhe der Türe und des Küchenplafonds an seiner Gestalt. Er war ein sehr kleines Männchen, und so musste man sich, wenn man eintrat, bücken, und auch drinnen konnte man nur zwischen den Deckenbalken aufrecht stehen. Aber der Tante Nina ging es dort gut, denn auch sie war klein und von den Jahren und Krankheiten bucklig geworden. Der Grossvater Bianconi war ein weiser Mann, er beschied sich mit dem wenigen, das er besass, oder war sogar zufrieden mit nichts. Er mass alles an seiner klösterlichen Genügsamkeit. Er passte den Schritt seinen Beinen an oder nahm ihn sogar noch ein bisschen kürzer, als die Beine es waren. (Was sicher nicht die beste Art ist, die Beine länger werden zu lassen.) An dieser niedern Tür kann man ein Lebensprogramm ablesen, ein fast horazisches Lebensbekenntnis, einen Sinn fürs Masshalten, der vielleicht nicht möglich ist ohne ein bisschen Egoismus. (Diese Tugend ist bei den Nachfahren nicht ganz verloren gegangen. Mein Vater hat sie geerbt und sein ganzes Leben lang wert gehalten …)
Aus dieser Tür sind mein Vater und zwei seiner Brüder herausgetreten, um nach Amerika auszuwandern. Nur der jüngste Bruder, Pietro – er soll sehr intelligent gewesen sein –, ist Lehrer geworden und zu Hause geblieben.
Aber nicht einmal von Onkel Pietro ist etwas auf uns gekommen. Nur durch Zufall ist es mir gelungen, ein schmales Heft mit der Reinschrift italienischer Aufsätze aus dem Jahre 1879/80 ausfindig zu machen. Ferner sein Lehrerdiplom vom 24. Juni 1883, das vom Direktor F. Antognini und vom Staatsrat Marino Pedrazzini unterzeichnet ist. Ein schönes Lehrpatent mit lauter Zehnern (ein Vorwort erklärt: «Die Note zehn entspricht den besten Leistungen»), und nur einer Neun (beinah höchste Leistung) in Kalligrafie und im Singen. Fürs Turnen hat er keine Note erhalten. Es heisst, er sei als Knabe von einem bösen Hund erschreckt worden; davon war er ungelenk und ein wenig bucklig geworden. Jener Rektor Antognini hatte die Brüste der Caritas, die sie ihrem Tugendamt gemäss im Refektorium des Franziskanerklosters, das zum Lehrerzimmer geworden war, einem nackten Knäblein reichte, prüde verschleiern lassen. Dieser unbedeutende Vorfall kennzeichnet das Klima der Schule, wie man es in den Aufsätzen Onkel Pietros wiederfindet. Sie sind von einer rhetorischen Unaufrichtigkeit, die einen ärgert und zugleich zum Lächeln reizt; eitle Wortspielereien. Doch bei einem der ersten Aufsätze, mit dem Titel «Stellt euch die Aufgabe, einen eurer Verwandten oder Freunde über die wenigen bisher verbrachten Schultage zu unterrichten, und fügt irgendeinen weiteren Bericht hinzu, den ihr als passend erachtet» muss man bedenken, dass mein Onkel damals fünfzehnjährig und eben erst aus seinem Bergdorf heruntergekommen war; dort liest man nämlich ein paar Sätze, die aufrichtig klingen: «Ich tue hiermit kund, dass ich dieses Jahr hier in Locarno ins kantonale Gymnasium aufgenommen wurde. Ich überlasse es dir, dir vorzustellen, wie sehr ich mich am Anfang schämte, denn keiner kannte mich, und alle schauten mich an, und ich war sehr verwirrt, als ich mich so von all den Schülern umgeben sah und keinen einzigen kannte! Dennoch fasste ich Mut und antwortete, so gut ich es konnte, auf die Fragen des Herrn Professor. Jetzt aber kenne ich meine Gefährten schon … Wir sind etwas mehr als zwanzig Schüler und haben drei Stunden Schule im Tag.»
Daraus spürt man so recht die Empfindung der Scham und der Demütigung des wer weiss wie gekleideten Knaben, der darüber hinaus auch körperlich ungelenk war und mitten unter den kühnen Gefährten stand. Doch drei Jahre später war er der Tüchtigste von allen.
Er war nur ein Jahr lang Lehrer, ich glaube in Cugnasco. Dann starb er zwanzigjährig, im Jahre 1884.
Wenn sich im Haus der Bianconi nichts mehr finden lässt, so ist glücklicherweise im Haus der Grosseltern mütterlicherseits, bei den Rusconi, manches erhalten geblieben. Es waren dies weniger armselig lebende Leute und sie waren der Erde fester verhaftet. In der sonnigen Loggia, wo wir nicht lasen, nein, nur die Bilder in den Zeitungen anschauten, die der Onkel Gottardo aus Kalifornien erhielt, die bunten cartoons mit den Karikaturen, die wir dann auf den Seiten des «Corriere dei Piccoli» wiederfanden, Happy Hooligan, verwandelt in Fortunello, dort war eine Truhe erhalten geblieben, ein Schrein mit alten Papieren. Es waren notariell beglaubigte Dokumente, Verträge, Empfangsbestätigungen, aber vor allem Briefe, viele Briefe aus Australien und Amerika. Die Briefe der Auswanderer und oft sogar auch die Briefe von zu Hause, die der Ausgewanderte ehrfürchtig zurückgebracht hatte, als er heimkehrte. Kurz, ein ganzes Familienarchiv. Alte vergilbte Papiere voller Wasserflecken (und die Kopiertinte bringt Effekte zustande, wie sie der Tachismus bevorzugt). Regengüsse hatten die Truhe manchmal durchnässt, doch glücklicherweise war sie von Mäusen verschont geblieben. Diese Papiere sind uns erhalten. Nicht, dass sie ganz unbekannt gewesen wären. Irgendjemand hat vor mir schon den kleinen Schrein durchstöbert – nicht mit eitel Neugier bewehrt wie ich, sondern mit einer nützlichen Schere – und hat alle Briefmarken akkurat herausgeschnitten, sich um das Geschriebene aber nicht gekümmert. Dieses besass keinen Handelswert. Und ausserdem war es ein Ergebnis der Traurigkeit, voll vom Geruch der Einsamkeit und der Mühsal.
Es ist typisch für die weniger Armen unter den Armen, dass sie hartnäckig alles beiseitelegen und nichts, aber auch gar nichts fortwerfen, nicht einmal einen verrosteten Nagel. Alles könnte noch einmal zu etwas dienen, man kann nie wissen … Leute, welche in der Bedrängnis leben, bewahren nichts auf. Sie können nur das dringend Notwendige behalten. Sie leben ein Dasein, das keine Schichtenbildung erlaubt. Es sind Menschen ohne Geschichte, sie werden sogleich ausgelöscht. Während die knauserige Ehrfurcht, welche Papiere und Briefe aufbewahrte, mir gestattet, die Vergangenheit ein wenig abzuschreiten, in der Zeit zu graben, eine Gestalt oder eine Tat meiner Vorfahren