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Küngoldingen, den 20. Oktober
Vierzehn Schüler, von der 1. bis zur 4. Klasse
Antonella Annunziata aus Pompeji bringt mir das Rezept für die Pizza bei, einen ganz besonderen Trick. Sie möchte in ein Internat, «a chiudersi», sagt sie, sich einschließen, wie ihr Bruder in Brescia und ihre Schwester in Nola: «Wenn ich den Verstand dazu habe, lerne ich dort auch Französisch. Die Briefe nach Italien schreibe ich, wenn man berichten muss, wie es uns geht; wenn es interessante Dinge sind, schreibt die Mutter oder der Vater. Ich muss jeden Abend den Haushalt machen: die Teppiche klopfen, darauf ist die Mutter wie wild: Wir haben einen Fußboden aus Plastik, wozu denn so viele Teppiche? Ich muss im Wohnzimmer auf dem Sofa schlafen.»
Zuhinterst im Schulzimmer stehen die Kisten für die Musikinstrumente: Hier übt wohl eine Küngoldinger Kapelle; «La Paloma», heißt es in großen Lettern auf einer Kiste. Draußen senkt sich ein rotes bemoostes Dach schräg gegen die ganze Fensteröffnung.
Das kleinste Mädchen, das noch gar nicht zur Schule kommen müsste, Donatas Schwester, gleicht einem Zigeunerkind mit ganz langen schwarzen Haaren und einer schwammigen Nase. Auch ein Vamp ist dabei, mit nackten Hühnerbeinchen.
Die Schulinspektorin ist gekommen, eine blonde Hexe.
Rico ist der Schönste, winzig, aus der Vierten, flink und hell, aber er will barfuß bleiben.
Sergio stellt sich auf einen Schemel, um die Wandtafel zu putzen.
Die schwierigen Wörter mit -gl-: «Amaglia».
Das Diktat über das Wasser. Grammatikalische Grundbegriffe.
Der Mantel der Hexe hängt über dem meinen.
Ich weiß noch nicht alle Namen.
Sie haben saubere Fingernägel.
Seon, den 31. Oktober
Neun Kinder, von der 1. bis zur 3. Klasse
Die an die Wandtafel gezeichneten Kleidungsstücke: die Hosen, der Pullover, die Stiefel, die Socken, die Mütze, die Schärpe, die Jacke.
Die Kinder schreiben das Wort daneben und tragen es dann ins Heft ein. Auch hier steigen sie auf den Schemel, um an die Wandtafel zu schreiben.
Es sind fast alle Sizilianer: Salvatore Ginestri, mit ausgetretenen Schuhen, untersetzt, elf Jahre alt, böse; Pino, der das Erdbeben miterlebte und jetzt dauernd abgedeckte Häuser, Steine, die vom Himmel herunterhageln, und Kreuze zeichnet: «la croce diddio», Gottes Kreuz. Concetta, in der Ersten, das Gesicht und das Stimmchen aus Samt, die Haare als Pferdeschwanz hoch oben mit einem dünnen Zopf zusammengebunden; ihre linke Hand ist nur angedeutet, statt Finger kleine rote Knospen, die sie beim Reden streichelt.
Sizilianer verstehen das Wort «sciarpa», Schärpe, nicht: Sie sagen «fasciacollo».
An den Wänden hängen Bilder mit schweizerdeutschen Gedichten: Ich begreife nichts davon.
Einzelne Kinder stinken: Vielleicht haben es die Schweizer Lehrer gemerkt; ich muss es allen irgendwie sagen, so ganz allgemein, dass sie sich täglich waschen sollen.
Sie geben mir ihre schwitzende klebrige Hand zum Abschied, auch wenn sie mich dann noch an den Zug begleiten; Donnerstag muss ich wieder hin.
Brugg, den 2. November
Sechzehn Schüler, 1., 2. und 3. Klasse
Sie wollen die Fenster offen lassen. «Zum ersten Mal seit langem scheint wieder die Sonne, es ist schade, wenn man schließt; oder dann gehen wir lieber hinaus.»
«Mein Onkel Nino in Bergamo hat einen Jagdhund: Ich habe ihn schon einmal gesehen.»
Maria Vittoria könnte ungefähr achtzehn Jahre alt sein; wenn sie aber arbeitet, macht sie es wie die anderen, sie lässt keinen abschreiben: Sie deckt jedes Wort mit der Hand zu. Sie hat lackierte Fingernägel.
Die Wörter mit Apostroph.
Die Schüler sollen einen Gedanken, einen schönen Satz niederschreiben, «un pensierino». Daniele: «Der Esel hat es hübsch warm im Stall.» Danieles Augen sind so schwarz, dass sie im Sonnenlicht glühend weiß erscheinen.
Marco stellt sich ans Lehrerpult, um uns alle zu zählen, weil er sich nicht mehr erinnert, wie viele wir eigentlich sind.
Fabiola, die Einzige aus der Ersten, still und gefügig und blitzblank sauber, mit einigen Zahnlücken: Sie schreibt einen Buchstaben des Alphabets nach dem andern hin, als ginge sie langsam den Berg hinauf und hinunter.
Vincenza und ihr Bruder, rabenschwarz, mit scharfen Zügen, Neapolitaner, tänzeln beim Reden.
Franco, ein Hirtenbüblein aus den Abruzzen, das man in einer Weihnachtskrippe aufstellen sollte, mit Dudelsack und Ringellocken, ist der Schnellste, wenn wir mit den Fingern rechnen.
Ob ich wirklich eine Italienerin bin? Das ist immer die erste Frage.
Emilio ist ein Miniaturkind; er malt alle Wimpel des Dampfers säuberlich aus, für jeden nimmt er einen andern Farbstift; das Meer schmiert er mit wenigen großen Strichen darüber und verdeckt das Ganze.
6
Ich bin durch jenen ersten schneidend klaren Dezember geglitten wie ein Wassertropfen über das Trockene: In mir trug ich alles Nass der ausgelaufenen Brunnen und der froststarr schimmernden, in Eis gehauenen Straßen. Ich bin wie ein Hausierer von einer Schule zur andern in der Runde gewandert, mit einer immer vollen Mappe und einem Gefolge von Lausbuben.
In den Nachmittagsstunden schienen in manchen Dörfern die Kinder die einzigen Bewohner zu sein; die Erwachsenen hielten sich alle in den Häusern oder den Fabriken verborgen; kein Auto mehr, kein Fahrrad unterwegs. Die Kleinsten mit ihren bunten Kapuzen standen im weiten leeren Brunnentrog in Turgi und murmelten vor sich hin wie Wasser heimlich unter der Eisdecke; die beiden Venezianer Mädchen mit einem weißen Tuch um den Kopf spielten Krankenschwester und sagten auf dem Platz in Turgi in ihrem Dialekt zueinander, es sei Mitternacht, gehen wir heim: «Andiamo a casa, xe mezanote.» Die Katzen schliefen ausgestreckt auf dem Metallrost über dem Abzugsrohr, wo der Backofendampf der Confiserie Meier herauskommt, und wärmten sich das Fell im Duft des Mürbeteigs.
Über glitschige Platten und Fliesen lief ich von Tag zu Tag meinen Weg;