Das erste Mal, als sie uns mit Fredi bekanntmachte, hatte ich mich gefragt, ob sie ein Paar wären; ich weiß noch, wir waren damals zum Essen in die Stadt gegangen, Bethli mit uns beiden: Fredi sollte später zu uns stoßen. Wir warteten auf ihn in einem großen Lokal, wo es nach Zigarre roch, mit einer Drehtür und grünen Jassteppichen auf den Tischen, und viele massige Männer spielten wortlos Karten und brachen dann plötzlich in heftiges Geschrei und Husten aus. Die Kellnerinnen, alle mit dem vorgewölbten weißen Spitzenzünglein der Schürze über der Geldbörse, hatten nicht viel zu tun, aber sie sahen müde aus, lehnten sich mit der Hüfte und dem Ellbogen an die Theke, plauderten miteinander und behielten dabei die Kartenspieler im Auge, die immer wieder mit einer angedeuteten Bewegung, indem sie das leere Glas in die Höhe hoben, ein weiteres Bier, die dritte oder vierte Stange bestellen konnten. Eine nicht mehr ganz junge war darunter, die während der ganzen Zeit, als wir auf Fredi warteten, sich mit dem Finger in den Ärmelausschnitt des schwarzen Pullovers aus und ein fuhr, teilnahmslos im Takt wie ein Pendelchen, das die Minuten schlug. In der Mitte des Raumes saß an einem runden Tisch, dem Vater gegenüber, ein schwachsinniger aufgeschwommener Junge, mit Händchen und einer Fistelstimme wie ein Neugeborener; es war ihm vermutlich beigebracht worden, er solle keinen Zucker essen und seine Schachtel Assugrin bei sich haben: Denn er hatte dem Vater die Zuckerwürfel für den Tee hinübergereicht und dann mit unsäglicher Aufmerksamkeit die Tablettchen aus der Dose genommen und ins Glas fallen lassen (den Tee servierten sie für gewöhnlich in unzerbrechlichen Glasbechern, ähnlich wie die zum Zähneputzen).
Fredi, der damals für uns noch Herr Senn hieß, hatte mich, so lang er war, mit einer derart tiefen Verbeugung begrüßt, dass ich meinte, er küsse mir die Hand; und da ich nicht recht wusste, wie das bei einem Handkuss vor sich ging, fragte ich mich dann noch eine ganze Weile, ob er es vielleicht doch wirklich getan hatte. Wir waren zum Essen in einen Nebenraum hinübergewechselt, eine verwinkelte Puppenstube mit vielen kleinen Tischen, alle gedeckt und mit Blumen und brennenden Lämpchen in den Fensternischen; und hier nun bedienten uns Kellner, fast alles Italiener. Mein Bruder schwieg, er war vielleicht verärgert, dass er sich nicht wie Herr Senn zum Essen umgezogen hatte: Er sah älter aus, machte ein Gesicht à la Po-Ebene, eine trockene undurchdringliche Miene, und ließ die Schultern hängen wie unser Vater auf den Fotografien; ich mochte es sogar gern, wenn Gianni so finster war: Er kam mir dann viel erwachsener vor als ich, wie ein Schatten, der uns alle stumm bemitleidete: Er rieb sich die Stirn und die Augen, als ob er die Gedanken verscheuchen wollte, die in seinem Innern mahlten, und daraus hervor tauchte dann ein fahles fliehendes Gesicht wie ein Nieskrampf, ausgehöhlt in den Augen, die düsterer als ein Abgrund wurden. So war es jenen Abend an mir zu reden: Herr Senn nämlich richtete dauernd Fragen an mich, vielleicht auch nur aus Höflichkeit: Er redete zu laut, ganz erregt vor Wagemut, Sätze in einer fremden, im Grammatikbuch gelernten Sprache nun von sich zu geben: Was er sagen wollte, lief durch ein Übersetzungsmaschinchen und kam wie gedruckt heraus, so dass ich bei meinen Antworten das Gefühl hatte, nicht mit ihm zu reden, sondern ein Formular auszufüllen. (Aber dann flocht er gern bei jeder Gelegenheit «lo giuro, lo giuro» ein, ich schwöre es, wie ein geborener Italiener, und wiederholte es sehr unbefangen, vermutlich um sich vor Bethli aufzuspielen.) Er hatte eine blonde Haarsträhne, die ihm in die Stirn fiel, und schöne Musikerhände: Ich stellte ihn mir an dem Abend als kleinen Jungen vor, wie die Schüler, die Schweizer, denen ich jeden Morgen unterwegs begegnete: schmächtig, mit einem Haarbüschel in der Stirn und ernstem Blick hinter der Brille hervor, in der Hand den Geigen- oder Cellokasten. Zu Bethli sprach er immer schweizerdeutsch, rasend schnell und mit ganz anderer Stimme: Ich versuchte zu erraten, was zwischen ihnen war, ob Zärtlichkeit, heimliches Einverständnis oder sonst was. Was sie sich wohl schon gesagt, wie sie einander kennengelernt, ob sie eifersüchtig waren, welche Erinnerungen sie miteinander hatten. Mir wäre es komisch vorgekommen, so einen Freund zu haben, mit Haaren wie ein Junge und der dazu noch deutsch spricht: der mir vielleicht die Hand geküsst hätte, bevor er mir einen dicken glänzenden Ring an den Finger ansteckte. (Aber hatten sie dann den Ring, so wusste ich schon, wie sie sich die Finger drückten: Täglich traf ich sie in der Bahn, die Pärchen halbwüchsiger Verlobter, die sich an allen vier Händen gepackt hielten, wie mit Zangen so fest für immer, für immer.)
Was uns fehlte, in unserem Zug, war mein schöner Zeichentisch: Die Leute, die im Parterre wohnten, hatten uns für den Winter ihren orangerot gestrichenen Gartentisch geliehen, an den wir uns zum Essen setzten, und sechs gleiche Stühle dazu; aber die Schulbücher, meine Hefte, die Bücher, die Gianni aus Italien mitgebracht hatte und die, die er in der Libreria Italiana in Zürich kaufte, um sie dann auch mir und Gino weiterzugeben, die stapelten wir am Boden auf, in zwei hohen Bergen; mit unseren Freunden saßen wir so zwischen den zwei Stößen am Kaminfeuer in einem weißen Lichtfleck: Von oben umhüllte uns der Strahl eines von Giannis Scheinwerfern; die Hände wärmten wir uns, indem wir Nüsse knackten: Der eine von den beiden Tessinern, der noch mehr Bauer war, brach sie mit seinen breiten kräftigen Händen auch für Bethli und mich auf; drei aufs Mal konnte er in der geballten Faust knacken.
Die beiden kleinen Tessiner brachten uns keinen Krimskrams mit: Sie kamen mit einem Panettone Selma oder mit den Nüssen, einer Flasche Grappa oder mit einer Salamiwurst, die sie unter der Jacke versteckten; sie trugen mir alles in die Küche, «nur eine Kleinigkeit», sagten sie, «l’è nagott, l’è ‘1 minim», und strichen mit dem Italienischen ihre Mundart voll Knoten und Warzen, glatt, schlimmer noch als die unsrige.
Sie hatten mir erzählt, dass sie hier «herein», «in dentro», also in die deutsche Schweiz, gekommen waren, um die Sprache besser zu lernen; aber deutsch, sagte mir Gianni, redeten sie nicht einmal im Geschäft; und zum Schatz, «a morosa», gingen sie übers Wochenende ins Tessin, wenn sie nach Hause zurückkehrten: Der eine hatte eine richtige feste «morosa», die im Ospedale Civico in Lugano arbeitete, und wir wussten es, dass wir uns von Zeit zu Zeit ein Stück vom Panettone der Mariangela abschnitten. «Hast du es ihr erzählt, deiner Mariangela, dass du da bei zwei hübschen Mädchen sitzt und ihren Panettone isst? Hast du es ihr erzählt von Bethli, die drüben duscht?» (Und in dem Augenblick war vielleicht Mariangela, das arme Ding, gerade im Begriff, sich die weiße Ärmelschürze umzubinden, um ihren Nachtdienst anzutreten.) Wer uns die drei Nüsse mit der bloßen Hand aufbrach, war aber doch der andere, der Bauer von den beiden.
4
Mit Giannis Freunden unterhielt ich mich oft über meine Schüler: Aber sie wollten nicht, dass ich von den Aufsätzen erzählte, von dem, was wir zusammen lasen, von den Zeichnungen, die ich geschenkt bekam und die ich über alles liebte und nicht einmal Bethli gab; sie wollten Daten wissen, wollten Zahlen, und da war es dann jedes Mal, als ob man Funken schlüge über die leeren Nussschalen: Hitzige Diskussionen entbrannten, bei denen der Name und die Geschichte meiner Kinder nichts mehr bedeuteten, sondern nur noch die Regierung, die Industrie, die Politik etwas galten. Fredi, der Jus studierte (und den wir jetzt beim Vornamen nannten), hatte alle Ziffern im Kopf und wusste die Einwohnerzahl einer jeden Gemeinde: so viele Schweizer, so viele Ausländer, so viele Italiener; mit seinen Zahlen hatte er die Sache besser im Griff als wir alle: Es genügte, sagte er, da und dort ein paar Nullen wieder zurechtzurücken, er schwor es. Und ich dachte, dass alles, was ich im Augenblick tun konnte, nur das eine war: dass ich mit den Eltern von Sergio redete, meinem kleinen Sizilianer in Döttingen; dass ich sie dazu brachte, sich beim Schweizer Lehrer für das häufige Fernbleiben ihres Kindes zu entschuldigen; und dass sie Sergio dann weiter in Döttingen zur Schule schickten, damit er bei ihnen aufwachse, und dass sie ihn nicht zu den Großeltern nach Italien abschoben. Aber es war schwierig, so zu reden, schwierig, dass sie nicht auch mir misstrauten: Sie selbst waren nicht in die Schule gegangen, was sollten sie da ihr Kind hinschicken?
Ich hätte nochmals bis Samstag gewartet, um sie zu Hause antreffen zu können; in die Schule hätten sie keinen Fuß gesetzt, nie und nimmer, und nicht nur aus Zeitmangel; so wäre ich denn nochmals hingereist, am Samstagnachmittag, im gelben Postauto mit dem Schweizer