Ich hatte gelernt, mit dem amtlichen Kursbuch der Schweizerischen Bundesbahnen und der Postautos umzugehen, weil ich jeden Tag, und fast immer zweimal, von einem Dorf zum andern, von einer Gemeinde hinüber zu einer andern Gemeinde im Kanton herumfahren musste. Wir waren, wir sechs italienischen Lehrer, dem Vizekonsulat in Baden unterstellt, das uns jedes Semester die Ortschaften und den Stundenplan für unser Fach zuteilte: «Italienische Sprache und Kultur»; vier Wochenstunden in jedem Dorf für die Italienerkinder, die regelmäßig die schweizerischen Gemeindeschulen besuchen, damit sie, wenn sie nach Italien zurückkehren (aber auch sonst), sich nicht völlig fremd fühlen in ihrer Heimat: Es war zeit- und kräfteraubend, so hin und her von einer Schule zur andern bis zu abgelegenen Dörfern, die manchmal nur zu den unbequemsten Stunden im Postauto zu erreichen waren.
Ich zum Beispiel musste im ersten Semester am Montag und am Donnerstag von halb acht bis halb zwölf, 1. und 2. Kurs, in Zurzach sein und am Nachmittag dann bis halb sechs in Seon, was wegen der Anschlüsse eine Fahrt von zwei Stunden bedeutete. Meine Mahlzeit war ein Schinkenbrot unterwegs, dazu aß ich drei Reihen Blockschokolade, an der ich mir fast die Zähne ausbiss.
An den anderen Tagen pendelte ich von Brugg nach Küngoldingen, weiter nach Döttingen: Mein Kalender war ein Karussell von Dörfern und kleinen Industriestädten, die mich in einem Glasgebäude empfingen, an das der Architekt soeben noch die letzte Hand angelegt hatte, sauber wie ein Kühlschrank und mit den Lautsprechern und dem Gong fürs Pausenzeichen, Schulhäuser, die die Kinder nur in Pantoffeln betraten; oder in einem dunklen Kellergeschoss, wo ständig die Glühbirnen fieberten, wo die Heizkörper mehr zur Dekoration dienten und wir durch die schmalen Oberlichter nach und nach gelernt hatten, Frau Doktor und all die Leute, die über den Hof daherkamen, an ihren Schuhen zu erkennen. Die Knaben hatten eine besondere Vorliebe für diese verwitterten Räume, in denen meistens vielerlei Sägen, Hobel und Hämmer herumlagen, die ihnen bis in die feinste Schraube vertraut waren: die Zimmer für den Werkunterricht; «Handarbeit» stand an der Tür, und mir schien es jedes Mal, auch wenn die Werkzeuge nicht die gleichen waren, ich käme wieder in Fabios Labor.
Fabio, über sein Werkzeug gebeugt, mit den vorstehenden, zu einem Knoten verschlossenen Lippen, die mir gefielen, in seinem weißen Arbeitskittel, wenn er das Fleisch briet, in Gedanken versunken, eigensinnig, unnachgiebig, ganz in seine Arbeit vertieft, auf die ich eifersüchtiger war als auf alles sonst – und ich konnte nicht davon ablassen, ihn zu quälen und mich dazu, ich wusste, dass ich ihn deswegen liebte, weil er so hartnäckig war, so ganz aus einem Stück und ganz sich selbst wie ein starrköpfiges Kind mit dem Hammer in der Hand.
Ich wollte den Zauberbann brechen, dass er etwas sage, dass er endlich rede; auch ich wollte Bescheid wissen; und zu Hause noch fragte ich ihn ganz krank vor Neugierde aus; aber es war, als ob man sich mit bösartigen Pinzetten in seinen schönen Kopf hineinzwängte: Ich tat ihm weh dabei, und doch konnte er es mir nicht sagen, er schaute mich an, strich mir übers Haar, begriff nicht, warum ich weinte, hatte mich gern.
Jetzt, wenn mir die Tränen kamen in der Werkstatt der Handarbeit, jetzt war es, weil ich ihn so fern wusste, Fabio, weit weg auch in der Zeit, auch in Gedanken weit von diesem Ort am Rheinufer, der einen leichten Anstrich mondänen Lebens hatte: Das mochte von der Grenze herrühren, in der Mitte des Flusses, von den Thermalbädern mit den fremden Kurgästen; wie fern stand ihm das alles, Fabio, das Grab der heiligen Verena, die da lächelt mit dem viereckigen Kamm in der einen Hand und in der andern das Krüglein, unten in der Gruft der Stiftskirche, und die Votivkränze der jungfräulichen Bräute; die kleinen Kaufläden mit den beschlagenen Doppelfenstern, die Plätze mit der Bank rund um den Stamm des Lindenbaums, die komplizierten deutschen Inschriften, «Metzgerei Schmidli, Lindenhofplatz», die er nicht einmal hätte entziffern können.
Für mich dagegen gab es das jetzt und war so echt wie die auf seinem Tisch gerade ausgerichteten Bleistifte und Taschenmesser, wie jeder Winkel in seinem Zimmer mit dem Plattenspieler, der Griechenlandkarte und dem Amaro Giuliani, das Zimmer, das ich durch die abgeteilten Fensterscheiben im Nu ganz klar vor mir erblickte: Dies machte mir plötzlich Angst, dass ich so in ein Luftloch stieß, mitten unter den in zwei Sprachen lärmenden Kindern, dies, dass ich mich fragte, wo sie denn hinfließt, die Zeit.
Es war nicht