Die Kleine da. Er werde leichtes Spiel mit ihr haben, hat er zunächst gedacht. Er hat sie unterschätzt. Allmählich beginnt sie sich zu rächen. Zahlt es ihm heim, wird zu einer kleinen Jeanne d’Arc der Revanche für seinen studentischen Hochmut, der sie einst ignorierte. Und für etwas anderes, was er verdrängt hat.
Sein Elan in der Früh war trügerisch. Als er wieder auf der Filzmatte liegt, sieht er keinen Anhaltspunkt, eine Einöde sieht er vor sich. Ein gekleckertes gestrichenes Nichts. Bäuchlings ist man wehrlos. Mechanisch erhebt er sich wieder, um im Caldor das Wasser zu wärmen, das man für die Lösung der Schmutzschicht braucht. Blöd.
Blöd hat die Mutter die schadhaften Stellen auf seiner ersten teuren Sommerhose genannt. In gestärktem Leinen hat er sich zum ersten Mal kavaliersmässig gefühlt. Erstklass-Schneiderei einer alteingesessenen Zürcher Firma, sodass er das heikle Stück ausgebessert haben wollte, als es riss. Junge, du solltest mehr Sorge tragen, wo treibt ihr euch bloss herum: Die Weissnäherin, die monatlich kam, seufzte oft. Er hat sich von dieser Hose nicht trennen wollen, bis sie über Nacht zum Putzlappen geworden war. Die Mutter hat das bewerkstelligt, wie sie so manches bewerkstelligt hat im Sinne einer Kurskorrektur, die nicht dorthin führte, wo sie den Sohn haben wollte. Sondern dorthin, wo er schon war, wo reiche Nichtstuer sich im Flow suhlen, nur nachts sind sie lebendig. Damals ist das nicht anders gewesen. Damals war das Seefeld der Rotlichtdiskrikt, und die harmlosen studentischen Ausschweifungen landeten im Café Terrasse am Bellevue.
Hodlers Wahrheit hat Blödstellen. Das darf man nicht aussprechen, im Auge der Kunstgeschichte. Dass selbst ein Meister da und dort einfach pfuschte, weil er sein Geschäft satthatte. Oder weil ihm nichts einfiel. Dass Meister Hodler sich um etliche Stellen herumgedrückt hat, kann nur der Restaurator erkennen, es ist die stumme Bilanz von drei Monaten Arbeit am Bild. Sie wird nicht über seine Lippen kommen. Er mag keine peinlichen Dispute mit dem Fachkollegium lostreten.
Die Tage vergehen beim Schaben und Tupfen. Seit Tagen schabt und tupft er, kommt nicht rasch genug voran, um das Mädchen neu zu imprägnieren. Mit der zunehmenden Empfindung nehmen auch die Empfindlichkeiten zu, er entwickelt Idiosynkrasien, er schnüffelt Lösungsmittel und erträgt den Geruch der Menschen nicht mehr. Die Assistentin meidet ihn, seit er ausfällig geworden ist. Natürlich hat er sich entschuldigt. Er ist nervös, ungehalten beim Schach, da hilft, dass er den Schachpartner gewinnen lässt. Belanglos. Fesseln tut ihn derzeit nur diese Figur, die sich von den Schattengestalten abwendet, sich die Haare rauft, wenn niemand hinsieht. Weil sie sich fürchtet. Simple Erkenntnis.
Ein Fauxpas, ein Ausrutscher, das von gestern. Weil er gedacht hat, seine Eigeninitiative, dabei eine rein kör perliche Massnahme, würde seine Unrast beseitigen? Er hat sich hinreissen lassen, ist am Sihlquai gewesen, hat eine Polin ins Auto geschaufelt. Als sie ihn mit ihren schwarzgetupften Klauen umfing, hat ihn Panik befallen. Hier ist das Geld, so viel kriegen Sie in einer Woche nicht, sie war sprachlos, und er ist getürmt, mit offenem Hosenbund und nacktem Fuss auf dem Gaspedal. Im Rückspiegel sah er sie auf dem Trottoir stehen, die Handtasche schliessen, die Strumpfnaht prüfen: kein verlorenes Mädchen wie das von Hodler. Eine Professionelle going West. Es gibt sie zu Dutzenden, diese kaum flüggen, abgebrühten Hasardeurinnen aus Russland und vom Balkan, die längst nicht so bemitleidenswert sind, wie die hiesigen Frauenorganisationen tun. Denkt er.
Er hat Gewissensbisse gehabt, als er um Mitternacht ins Schlafzimmer trat. Seine Frau hat im Schlaf gewimmert und sich hin und her geworfen. Morgens stand er um sechs auf, um ihr im Bad nicht begegnen zu müssen. Er hätte ihr – post non coitum – nicht nackt entgegentreten können, so ist er nun mal, er leidet nicht sonderlich unter seiner Schamhaftigkeit: Deine Zürichbergsymptome, nannte es der Studienfreund. Der Zwinglianismus als metallkalter Keuschheitsgürtel für Männer. Er fühlt wenig bis nichts beim Geschlechtsverkehr, obwohl er normal funktioniert. Er hat aufgegeben, sich deshalb therapieren zu lassen. Läppisch, jene Sitzungen, in denen er einer Frau gegenübersass, die sich kaum von seiner eigenen unterschied. Eine Confession sentimentale zu dritt. Unerträglich.
Wer war das Mädchen? Er steckt den Pinsel zurück in das Glas, das mit Terpentin gefüllt ist, obschon Terpentin heutzutage verboten ist, die Dämpfe seien invasiv und könnten rauschartige Zustände bewirken. Hat der Mann behauptet, der die Werkstatt beliefert. – Was im Rausch entstand, bedarf des Rausches, bei der Nachbildung. Das ist simple Logik, Herr Kantonsapotheker –, sagte er mit Nachdruck auf den ersten zwei Silben. – Wir arbeiten hier im Auftrag der Stadt. –
– Ich bin bloss der Lieferant, ich habe meine Anweisungen. Und so weit mir bekannt ist, arbeiten Sie hier im Auftrag eines Fachkollegiums, das von Meryll Lynch gesponsert wird. Ausgerechnet die mit dem Dreck am Stecken. –
Woher der das weiss? Das geht diesen Kerl einen feuchten D an. Laut sagt er: – Hören Sie, es geht um Authentizität, und das heisst, die gleichen Instrumente, die gleichen Mittel, mit denen der Künstler gearbeitet hat. Von allein haben die alten Meisterwerke doch nicht diese Leuchtkraft gewonnen. Mit der Synthetik verpatzen Sie jede Aura, Herr Kantonsapotheker. –
– Wie Sie wollen, dann halt mit Terpentin. Sie tragen die Verantwortung, Herr Arter. –
– Jetzt schau einer an –, röhrte der Kollege von den Nabis im ersten Stock, – der Arter Hanskonrad wünscht sich den Rausch. Der kluge Kostverächter von annodazumal, er will einen Rausch. – Schwindel befällt ihn, wenn er an das Gespräch denkt. Noch jetzt ist da ein Stechen und nimmt ihm den Atem. Sind das Anzeichen einer Attacke? Die Zeitungsbeilagen sind voll von Warnungen, die er nicht mehr sofort als Werbemüll entsorgt. Nicht mehr, zwei Wörter werden wichtiger, wenn man älter wird.
Es ist Zeit, dass er den ganzen Vorgang rekapituliert. Bei Tageslicht und ohne Alkohol bei Tische. Das Mädchen hat ihn bestrickt. Man müsste von Verführung sprechen.
Obschon sich sein Glied niemals gereckt hat, im Anblick ihrer Nacktheit, es ist etwas anderes, was ihn an ihr erregt. Etwas Messianisches, was nicht zu ihm passt, nicht zu einem Arter der sechsunddreissigsten Generation. Vergegenwärtigen wir uns: Er ist nicht zu ihrer Reinwaschung berufen, er ist beauftragt mit ihrer Instandstellung, nichts weiter.
Das Ärgernis besteht in der unbekannten Herkunft des Modells. Die heroischen Hodlerweiber sind namentlich bekannt, sie tragen vom Schicksal gezeichnete, hagere Züge, hohe Stirn, Adlernase, klassisches Profil, tuberkulös unterhöhlt. Das Mädchen hingegen ist eine Anonyma. Eine Pennerin, entlaufene Bauernmagd, alles ist möglich. Ihr Gesicht ist älter als der Körper. Eine zwiespältige Aussage, derzufolge das Modell auch eine unerlöste Jungfer hätte sein können, die der Künstler kurz vor dem Verblühen entblättert hat.
Oder hat er eine Kriegswaise vor dem Verhungern bewahrt? Allerdings hat es um die vorletzte Jahrhundertwende in Bern wohl keine Kriegswaisen gegeben. Dann halt doch eine Bettlerin, die der Maler von der Strasse auflas, wo sie, der Not gehorchend, zum Freudenmädchen wurde, das nun gelegentlich gratis Indoordienste macht, denn einem anerkannten Meister zu dienen, ist allemal besser als der Strassenstrich. Er kommt je länger, je weniger an