– Was für eine Überraschung –, sagte ich, leider verstehe ich kein Aargauisch, wissen Sie, wir sprechen Deutsch in Aggloland, worauf er die Mundwinkel nach oben ausklinkte, das hiess: kapiert. Dann hievte mich der mehrfach Diplomierte kurzerhand auf eine Liege, versah die Sprechstundenhilfe mit der Anweisung «Bereitschaft zum Anschnallen», während er unter mir eine Spanne Küchenpapier ausrollte. Als er mich halbnackt darniederliegen sah, lichtete sich sein Ausdruck, und ich konnte den Gedankengang des Aargauers bis auf die Zungenspitze vordringen sehen. – Ich weiss, was Sie denken –, sagte ich kühn. – So? Sie sind ja eine Neunmalkluge, bloss sind die Verhältnisse –, er verschluckte den Rest des Satzes und hantierte weiter. – Machen Sie vorwärts mit den Verhältnissen, sie sind für einen plattgewalzten Appetithappen wie mich erniedrigend, das wollten Sie doch sagen –, entgegnete ich ärgerlich. Er hielt ein, wandte sich einen Moment lang ab und murmelte hinter seinem eigenen Rücken. Ich glaubte, dem dumpfen Wortlaut, den er vor mir verbarg, Folgendes zu entnehmen. Dass die Verhältnisse nicht für einen Macker wie ihn, ein typisches male chauvinist pig, gemacht seien und er umgehend kastriert gehöre, was ihm wohl bewusst sei, als Gefangener eines archaischen Triebs, der heutzutage keiner Patientin mehr zuzumuten sei. Er wandte sich mir wieder zu, und ich strahlte ihn an. So was von einem einsichtigen Typen war mir im Leben noch nicht untergekommen. Nun, ich mag mich verhört haben, schwören darauf würde ich nicht.
Es trat eine mir nutzlos scheinende Pause ein, bevor er sich erneut über mich neigte und forsch sagte: – Ich mache Ihnen jetzt ein Klistier. –
– Muss das sein? Klingt martialisch –, hauchte ich mit letzter Kraft, bevor ich mich gehenliess. Ja, das tat ich und ertappte mich dabei, wie ich fasziniert auf jedes Wort horchte, das aus dem Mund des für die mittelländische Darmflora zuständigen Aargauers kam. Die operative Erläuterung hatte begonnen und floss in gemächlichem Schweizerhochdeutsch dahin, flutete eindrucksvoll über die Klippen der Kompetenz, die mir jetzt blindes Vertrauen einflösste. Es war, als rezitierte Romulus der Grosse von Friedrich Dürrenmatt über mir, in der vom Autor freundlicherweise autorisierten Fassung für die Münsinger Laienbühne, und ich als erste Ersatzratte war entzückt.
– Ich biete Ihnen meine gesamten Ländereien an, Herr Romulus –, sagte ich, und der Aargauer hielt ein, schmunzelte (verzeih mir, Leser, Leserin, dieses vergangene Verb), während er mich an den einschlägigen Stellen diskret inspizierte. Dann lächelte, lachte er, wollte sich ausschütten vor Lachen. – Sie, also Sie. Es ist mein Ernst, Herr Romulus, falls Sie mich als Versuchsperson brauchen können, zu einem bescheidenen Preis stehe ich zu Ihrer Verfügung. Ich bin als erste Ersatzballetteuse arbeitslos geworden. Weil meine Nerven zu schwach sind. Vielleicht versuchen Sie es anstelle des Kli… –
– Klistiers –
– Anstelle dieses altväterischen Stiers besser mit der Botoxspritze. Meine Lippen sind zu dünn, oben und unten. – Er hob die Augenbrauen, es waren zwei dichte, mit weissen Fäden durchsetzte Büschel, er musste auf die fünfzig zugehen, dachte ich und bemerkte, dass ihn meine Vertraulichkeit rührte, ja, gegen seinen Willen in Wallung brachte. Vielleicht bildete ich mir das bloss ein, und er hatte lediglich zu hohen Blutdruck. Eine Pause trat ein, während er geschäftig mit seinem Besteck hantierte. Dann kam es verhalten – Sie sind ganz schön anzüglich. Eine Verführerin wie Sie weiss genau, wie sie die Männer einbuchten und kassieren kann. Was nun? Was tun wir mit einer wie Ihnen? –
Statt eine Antwort abzuwarten, hielt er mir den prallgefüllten Sack, der an einem Kunststoffrohr hing und mein gesamtes Foodstuffunternehmen enthielt, unter die Nase, ich muss zugeben, er hatte es schonend abgezapft, doch nun sah ich meinen Darminhalt wie einen offenen Siphon, den ein pflichtvergessener Sanitär hatte liegenlassen, in seiner Faust, ich fing an zu reden, wurde laut und lauter, um die aufsteigende Übelkeit hinunterzuwürgen.
Ich konzentrierte mich auf jede Silbe, das half.
– Sie werden meine Avance überstehen –, sagte ich, – das haben schon mächtigere Männer, also im Ernst, Doktor, ich habe gelesen, Botox helfe gegen Depressionen. –
– Mumpitz –, sagte der Aargauer, – sie sollten nicht alles glauben, was in diesen Heften steht, die sich fachmännisch geben, es sind nur gezinkte Inserate, die das behaupten. Wissenschaftlich ist das keineswegs bewiesen, das kann ich Ihnen versichern. –
– Kommen wir zur Sache, was raten Sie einer Ersatzratte, die entlassen wurde als ein permanenter Wechselschrat, einmal dick und einmal dünn? –
– Was wollen Sie eigentlich von mir? –, sagte er unglücklich. Ich hatte mich inzwischen aufgesetzt und das Küchenpapier über meinen Schoss gebreitet.
– Das Mindeste, was mir zusteht, Doktor, bei diesen exorbitanten Kassenprämien –, sagte ich, – ist ein sachkundiger ärztlicher Ratschlag. – Er schwieg, ich insistierte. Er trat ans Fenster, sah hinaus, und ich sah einen Rücken, der nicht so breit war, wie ich vermutet hatte.
Ich wartete, dann drehte er sich brüsk um und empfahl mir ein ... wie bitte? Ein Praktikum beim Zirkus. – Mit Ihren kuriosen Einfällen und Ihrem rotzfrechen Charme sollte das möglich sein. Ich werde sehen, ob ich Ihnen eins verschaffen kann –, sagte der Aargauer. – Ich habe einen Patienten von und mit Knie. Ja, dem hängt die ganze Sippe am Knie. Er verschafft mir freien Eintritt zu jeder Vorstellung. – Ich schluckte leer. – Aber –, sagte ich.
– Kommen Sie mir bloss nicht mit Ausreden, ich werde Ihre Fortschritte verfolgen, ich werde keinen ihrer circensischen Purzelbäume auslassen. So ist das. –
Wir schauten uns mitten ins Gesicht. Die Offenheit, die jetzt zwischen uns lag, war unverstellt und gegenseitig. Und da war zusätzlich etwas anderes, das noch nicht benannt sein wollte.
Leider kam es nicht dazu.
Warum? Ist doch klar.
Er hatte sich gemeldet.
Der voraussichtlich Gehörnte. Fing an zu protestieren, rülpste und röhrte, stiess dermassen schmatzende Salven aus, dass der Aargauer die Stirne runzelte und sich noch einmal hinsetzte. – Ich verschreibe Ihnen etwas Mildes gegen Sodbrennen. Da scheint doch etwas vorhanden zu sein. –
– Er, nichts als er –, schrie ich in die Praxe hinein und schlug mit der Handkante auf den Nabel. In einem Mix von Ohnmacht und unterdrückter Wut kam es aus mir:
– Der braucht ein Piercing, keine Pastillen. Ein Piercing, das ist die Antwort. Doktor –, flehte ich, und der Aargauer sah, wie es um mich stand.
– Bitte, Herr Doktor, wenn Sie uns ein Piercing verordnen könnten, das hilft garantiert. – Ich presste die Handflächen gegeneinander und spreizte die Unterarme, eine Geste der Demut und des huldvollen Aufbegehrens, die den Widerspruch in sich auflöst: Ich hatte sie von jeher an den Madonnenbildern der italienischen Meister bewundert, gleichzeitig sah ich den Ausdruck in des Doktors Augen, sie waren nun ohne Farbe, irgendwie flüssig.
Es vergingen Sekunden.
Und dann. Alles verflogen. Der Aargauer stand auf, sah auf die Uhr und sagte sachlich: – Es tut mir leid, ich muss Sie verabschieden. Ich wünsche Ihnen alles Gute, Frau … Wie war doch der Name? –
Das gab mir den Rest. Ich spürte die Tränen aufsteigen und wischte mit dem Ärmel vorsichtshalber über die Augen. Ich nahm meine abgewetzte Handtasche an mich wie ein schützenswertes Neugeborenes und stapfte mit steifem Rückgrat zur Tür. Hinter mir gab es Geräusche, und dann fiel der Flattersatz in meinen Rücken: – Hören Sie, ich kann das nicht, ich darf nicht, darf nicht. In Fleisch bohren. –
– Oh doch, Sie können, und wir beide wüssten wie … –
Obschon mein Zorn vernehmlich war, schloss sich die Türe des Ordinationszimmer sanft und beharrlich. Und sehr, sehr langsam. Ein seltsamer Trost, aber ein Trost.
Wir