Zunächst war unsere Zweierschaft in der Fremde ein Fall von Prostitution: Er arbeitete ausschliesslich für mich, er schaffte an, tat in stiller Demut seine Pflicht, solange ich ihn mit milden Gaben belohnte, Yoghurt und Kartoffelpuffer mochte er am liebsten, und ein Stück Quarktorte light zum Nachtisch. Dann folgte eine Epoche, die unser Verhältnis zurückwarf in eine finstere Vergangenheit, als es auch in Europa Leibeigenschaft gab, und so kam es, dass ich ohne die geringste religiöse Berufung zu fasten begann, um mich von ihm zu befreien. Ich fastete, bis ich Magenkrämpfe bekam und mich der Hausarzt zu einem Internisten schickte, mit Verdacht auf Divertikel. Dieser Fachmann war ein sportlicher Typ, ein Rheinländer aus Köln, nun, ich hab eben erst spät begriffen, dass die meisten Schweizer vom Fach eigentlich Deutsche sind. Der Internist trug statt des weissen Kittels einen hellblauen Jumpsuit und gab sich ungezwungen, während er mit der Maus, die durch eine Schnur mit dem Monitor des Ultraschallgeräts verbunden war, auf meinen Eingeweiden herumfuhr. Dabei prüfte er die Schummerlandschaft, die wie ein Wunder auf den Bildschirm trat, mit dem Blick des passionierten Schmetterlingssammlers, worauf die Diagnose erfolgte. Ich hatte eine Predigt wegen meiner undisziplinierten Ernährungsweise erwartet, der Internist aber schien zufrieden mit dem, was er sah.
– Sehen Sie, wie schön sich das Rektum an den Kolon schmiegt, perfekt –, sagte der Rheinländer, während ich auf die unappetitliche Verschlingung meines Darmtrakts starrte. – Was für eine Zumutung wir Menschen doch sind –, lispelte ich, dann wandte ich mich direkt an den Diagnostiker: – Stellen Sie sich vor, unser Innen wäre unser Aussen! Und die gesamte Bevölkerung bestünde aus einem gigantischen Fleischröhrengewirr, das sich nach Büroschluss durch die Strassen wälzt – eine einzige kilometerlange Monsterkrake. – Worauf der Hellblaue sich erkundigte, ob ich je an Kinderkrankheiten gelitten hätte, ob Depressionen in unserer Familie vorlägen, und derlei Unannehmlichkeiten. Ich versah ihn mit einem unwirtlichen Blick: – Machen Sie vorwärts, Mann, ist da etwas, oder ist da nichts? – Der Hellblaue schüttelte den Kopf, setzte sich, zückte den Kugelschreiber und schrieb mit grossen Schlenkern ein Rezept. Dann stand er auf, komplimentierte mich zur Türe mit den Worten: – Organisch kann ich nichts Auffälliges an Ihnen finden. Auf Wiedersehen. –
Auf dem Heimweg war alles wie vorher. Der Meinige schwieg, und ich sah, dass er schmollte. – Ich stelle fest, du bist ganz der Alte. –
Die Besänftigung galt eher mir als ihm. Trotz meines Fastens, das sich am falschen Ort bemerkbar machte, war er kein Jota von meinem Nabel gewichen. – Was hältst du von einer Paartherapie? –, fragte ich; da gab er ein paar despektierliche Laute von sich. Von Gleichstellung zwischen uns konnte keine Rede sein.
Er fühle sich eben wohler beim XY-Chromosom, bemerkte eine Freundin mutwillig, als ich ihr mein Problem mit ihm gestand. Was für ein Augenöffner, nickte ich, das muss eine einverschworene Männerfreundschaft sein. Dass er beim Manne sein natürliches Zuhause fand, kann man rundherum erkennen.
Ich ging über die Bücher. Hatte nicht weiland schon Julius Cäsar in Rom beleibte Männer für seinen Hofstaat reklamiert? Dem Patriarchat hat er ein paar Jahrhunderte lang zu Wohlstand und Respekt verholfen, je wohlhabender der Inhaber, desto mehr tat er sich hervor. Während einer vornehmen Ära sprach er ausschliesslich Französisch und nannte sich Embonpoint, später machte er sich an der Frontseite der Industriegesellschaft stark. Wen diese mit einer goldenen Uhrkette ausstattete, mit Spazierstock und senkrechtem Rückgrat, der galt als ein Herr.
Nun aber sind die Tage des Herrn gezählt; und wer auf sich hält, entlässt ihn fristlos und ohne Abfindung. Er hat sich unfreiwillig aus den Bildungsschichten verabschieden müssen, ohne eine vorauseilende Revolution. Die reiche Freizeitgesellschaft hielt ihn ein Vierteljahrhundert im panzerglasgesicherten Fitnessraum gefangen, bevor sie ihn dem hauseigenen Masseur auslieferte, der sich brachial über ihn hermachte, ihn mit Fäusten traktierte und dann in den Whirlpool schmiss, um ihn loszuwerden. Zeugen waren unerwünscht, man kennt das, wenn von Ausschaffung die Rede ist, er bekam keinerlei behördlichen Beistand. So wurde er vorübergehend heimatlos, bevor er sich in den untersten Schichten, dem sogenannten Prekariat, niederliess.
Eines Tages wurde auch ich eine Gefangene des Prekariats. Denn ich, Olga Jawlenka Kartowa, pardon, ich vergass mich vorzustellen, also ich verlor meine Anstellung als erster Balletteusenersatz im Opernhauscorps, man warf mir schwache Knöchel und schwache Nerven vor, und als Olga aus Nowosibirsk hatte ich nichts anzubieten, was das fort- und fortdauernde Ballerinengeflatter sonst hätte stützen können. Anderseits war ich als Tänzerin schon zu sehr von meinem Russischsein entfernt. Umso mehr war ich nach meiner Entlassung in psychisch labiler Verfassung. Darben musste ich zwar nicht, ich konnte beim Arbeitsamt stempeln gehen, doch das Geld ging fast ganz in den Lustbarkeiten auf, die ich wie Stapelfood anschaffte, Kaviar dosenweise, Blinis, Senffrüchte und Trüffel, Wildlachs, dazu Macarons in vielen fröhlichen Farben. Es heisst ja nicht zu Unrecht, dass russische Tänzerinnen zu Bulimie neigen. Ich aber revanchierte mich bei meinem Gespons statt bei diesem grössenwahnsinnigen Opernhausvorstand, der in seiner Allmacht alle und alles kaufte und verkaufte. Dennoch konnte ich für diesen Popanz keinen Hass empfinden, weil Hass aus der unmittelbaren Nähe entsteht. Er aber hat nicht mal die Namen derer gekannt, die er geschasst hat; erst kürzlich wurde der Mann endlich dorthin berufen, wo er aufgrund seines Charakters hingehört, nämlich in den Vatikan. Die brauchen dort mehr opernartige Auftritte. Für mich kam das zu spät. Unser Verhältnis war schon zerrüttet. Dass ich statt den eigentlichen Verursacher meiner Frustration den Meinigen abgestraft habe, nennt man, glaube ich, eine Projektion.
Man hätte annehmen können, dass ich als Mensch mit Kinderstube die ausgesuchten Leckereien zu kosten wusste, stattdessen war meine häusliche Revanche ohne Genuss und Kultur. Als die Delikatessen alle waren, begann ich wahllos in mich hineinzustopfen, Instantfood oder direkt aus der Büchse; er jammerte, erneut ein Opfer meiner Willkür zu sein, das klang, als entziffere er eine Partitur dieses Neutöners Giörgy Ligeti, den sie jetzt überall aufführen, vielleicht tönt es jedoch für Eingeweihte eher wie Stockhausen, der ist schon länger da, dabei der reinste Sisyphus, der fängt ja immer wieder von vorne an, und der hört nicht auf.
Peristaltik nennen sie es – was für ein blasses, realitätsfernes Fremdwort für ein äusserst dramatisches Geschehen. Bekanntlich sucht die Medizin im Lateinischen eine Ausflucht, wenn sie nicht weiterweiss. Er aber hielt durch, allen Respekt, dachte ich im Stillen, ich wusste um seine Selbstachtung, die erst in der schwersten Stunde nachlässt. Diese Stunde kannte ich nicht, ich wusste bloss, irgendwann würde Schluss mit Futtern sein, er würde streiken, angefüllt bis obenhin, wie wir waren. Vollgepropft bis zum Schlund am Ausgang der Speiseröhre mit einem Geschlicke, das zu transportieren er sich weigern würde. Es geschah zum ersten Mal an jenem Sonntag, der ein erster April war, und ich erkannte auf Anhieb: Ein Scherz war es nicht.
Das natürliche Gleitmittel hatte versagt, der Speichel alle Reste von gestern, vorgestern und jenseits der Milchmädchenrechnung, angereichert mit Fetzchen von Staniolpapier, Gummibärchen und Spearmint, unzureichend verflüssigt, Saucen und Sugoreste verstopften zusätzlich den Weg, den die kalte Pasta hätte nehmen sollen, die ganz allein unterwegs war, da die Blutspur aus roten Beeten ihr vorausging, statt sie zu begleiten, also duckte sich die Pasta, nackt wie sie war, in mich hinein und liess sich in den Biegungen meines Entsorgungskanals nieder, im Dunkel schien es ihr behaglich, sie blieb dort für Tage und Wochen, ohne Absicht, mich jemals zu verlassen.
Ich