Mir fehlte es an nichts. Gut, ich fand es ja auch völlig normal, dass beim Essen, wenn es zum Beispiel Königsberger Klopse gab, die Mutti einen Klops nahm und Elke und ich je zwei bekamen. Was ich wirklich schätzte: dass wir zu Hause sehr wenig helfen mussten. In meiner Klasse gab es ein Mädchen, das musste daheim den ganzen Haushalt schmeißen. Wir halfen ihr manchmal dabei. Einmal fiel mir beim Abwaschen ein Teller runter. Sie bekam dafür von ihrer Mutter eine Ohrfeige. In diesem Moment begann ich Muttis Handlungen, die ich bis dahin immer als selbstverständlich angesehen hatte, zu schätzen.
Mutti in jenen Tagen
Wie unbeschwert ich alles mitnahm! Wir spielten sehr viel auf der Straße, eigentlich ständig. Besonders beliebt war Völkerball. Das funktionierte, weil so gut wie nie ein Auto vorbeifuhr. Auch Gummihopse spielten wir und Kreiseln. Letzteres mit einem kleinen Kreisel aus Holz, den wir mit einer Peitsche antrieben. Wir rollten den Kreisel in das Peitschenband ein, entrollten dieses mit Schwung und peitschten, dass er lustig tanzte. Das waren Freuden! Auch das Murmeln war beliebt, besonders bei demjenigen, der am Ende die meisten Glasbugger sein Eigen nannte. Das waren echte Besitztümer! Unser Springseil war ständig dabei, und wir hatten alle diese kunstvollen Figuren drauf.
Da wir um die Ecke vom Schweriner Schloss wohnten, ging es mit Puppenwagen, Kind und Kegel unter das Schloss, in die Katakomben. Dort hatten wir unsere vielen »Zimmer« und konnten herrlich Vater, Mutter, Kind spielen.
Um das Fahrradfahren zu üben, fuhr ich einmal zusammen mit einer Freundin nach Zippendorf. Auf dem Weg dorthin hielt meine Freundin im Wald ihr Rad fest. Ich stieg auf, die Pedale bewegten sich – ich fuhr, allerdings nur mit Festhalten. Da riefen ein paar Jungens durch den Wald: »Guckt mal, die lernt fahren!«, und alle lachten mich aus. Das war es dann für lange Zeit mit dem Radfahrenlernen …
Aber schwimmen konnte ich, dazu brauchte man schließlich nur sich selbst. In Zippendorf befand sich das Schweriner Strandbad. Auch die Seen um Schwerin und, wenngleich es verboten war, selbst der Schlossteich waren unser! Für Wasserratten wie mich war Schwerin ideal.
Unsere Nachbarin Frau Geik hatte ein Radio, das Westsender empfangen konnte. Wir Kinder durften manchmal bei ihr Kalle Blomquist – Meisterdetektiv hören. Die Erkennungsmelodie habe ich noch heute im Ohr. Das war wirklich nett, obwohl die Nachbarin ansonsten nicht nett war. Sie mochte keine Katzen! Wir hatten eine …
Sie war schwarz, mit weißem Medaillon. Ich taufte sie Teddy. Als sie Junge bekam, war mein Glück vollkommen. Wir schauten bei der Geburt zu, unvergessen! Dann zu sehen, wie die Katzenmutter ihre Kinder erzog, war ein unbeschreiblich schönes Erlebnis. Ein Sonnenstrahl fällt auf den Teppich – sofort werden alle Kätzchen von der Mama dorthin getragen. Unermüdlich griff sich Teddy die flüchtenden Kleinen. Sie packte sie am Genick und brachte sie auf den Sonnenstrahlfleck zurück. Manchmal langte es ihr, dann ging es: batsch, batsch, schon hatten die Kleinen ein paar Ohrfeigen sitzen. Ein Kätzchen wehrte sich. Es fauchte die Mama an. Das strengte das Kleine derart an, dass es schließlich umfiel.
Die Jungen wurden verschenkt, bis auf eines. Es fand sich niemand. Also blieb der kleine Kater bei uns. Ich nannte ihn Conny. Ein Typ, den ich toll fand, hieß so. Mein Conny war der ideale Kinderkater. Er ließ alles mit sich machen, war unser Spielgefährte, eine lebendige Puppe. Wir zogen ihm Puppenkleider an, fuhren ihn im Puppenwagen spazieren und lehrten ihn, auf zwei Beinen zu tanzen. Teddy war für uns abgemeldet. Um sie kümmerte sich zum Glück die Mutti.
Unser Haus, das ich mit seinen zweieinhalb Stockwerken fast für ein Hochhaus hielt, hatte ein begehbares Dach. Dort wurde die Wäsche aufgehängt, dort sonnten wir uns und beobachteten die Sterne für den Astronomie-Unterricht.
Teddy trieb sich ebenfalls oft auf dem Dach herum, manchmal kam sie uns dann auf der Straße entgegen. Irgendwann muss auch Conny versucht haben, vom Dach zu springen. Bei ihm ging es schief, er brach sich das Genick.
Mein süßer kleiner Spielgefährte, er hatte keine sieben Leben, nur ein einziges kurzes, kleines. Er hatte noch nicht gelernt, zu fallen. Lange Zeit war ich untröstlich.
Auf dem Dach: Elke und ich, 1959
Wie fast alle Mädchen meiner Klasse war auch ich in unseren Sport-, Chemie- und Physiklehrer Herrn Heckler verliebt. Der Grund war simpel: Hatten wir unser Pensum absolviert, setzte er sich auf den Tisch, schnappte seine Gitarre und sang Lieder wie: »Rote Lippen soll man küssen« oder »Es hängt ein Pferdehalfter an der Wand«. Wir schmolzen dahin. Nicht nur ich kaufte mir eine Gitarre. Fünf Griffe – und mitgemacht! Unterrichtete unser Lieblingslehrer eine andere Klasse, hingen wir am Schlüsselloch, um ihn zu sehen.
Das erste Verliebtsein erlebte ich also gemeinsam mit zehn anderen Mädels. Dass wir so viele waren, störte nicht, im Gegenteil: Das schweißte zusammen!
Natürlich ging auch ich in den Leichtathletik-Kurs, den er leitete. Ich war anfangs total unsportlich, rannte im Sportunterricht gegen den Bock und dergleichen mehr. Aber doch nicht, wenn Lehrer Heckler dort stand! Diese Blamage! Das Wunder geschah, ich hatte Freude am Sport und feierte Erfolge.
Manchmal, wenn ich abends vom Leichtathletik-Training nach Hause kam und alle schon schliefen, dachte ich nicht daran, mir die dreckigen Füße zu waschen. Immerhin zog ich Socken über meine schwarzen Füße, um das Laken nicht schmutzig zu machen. Ich bin eben ein Fuchs …
Physik und Chemie waren, genau wie Mathe, nicht so mein Ding, aber ich konnte mich doch nicht vor ihm blamieren! Außerdem wollte ich nicht schuld daran sein, wenn am Ende der Stunde keine Zeit mehr blieb, dass er Gitarre spielte.
Ich war keine Leuchte, aber ich setzte mich auf den Hosenboden. Irgendwann war es dennoch mit dem Musizieren vorbei, der Direktor hatte es verboten.
Zu unser aller Entsetzen teilte uns unser Schwarm eines Tages mit, dass er heiraten wird. Wie konnte er nur! Wir sammelten und kauften einen Blumenstrauß. Gemeinsam gingen wir zu seiner Wohnung, legten den Strauß vor die Tür, klingelten und liefen davon. Ganz langsam. So holte er uns ein, nahm uns mit zurück und versorgte uns mit Kuchen.
Heute weiß ich, dass dieser Lehrer frisch vom Studium gekommen war. Ein totaler Gegensatz zu den Kriegsheimkehrern, außerdem war er nur acht Jahre älter als wir. Ein großartiger Lehrer! Wir lernten nicht fürs Leben, sondern für ihn. Seine Mittel heiligten den Zweck.
Als ich vierzig Jahre später endlich einmal zum Klassentreffen kam, fragte ich ihn, ob er wusste, dass wir alle in ihn verliebt gewesen waren. Seine Antwort: »Natürlich.«
Eine Klassenfahrt führte uns nach Berlin, zu den Hochhäusern in der Stalinallee. Wir waren tief beeindruckt von dieser großen, modernen Stadt. Das Hochhaus an der Weberwiese war das Ereignis für uns. In Vorbereitung auf die Fahrt nach Berlin hatten wir im Schulchor »Die Spatzen vom Alex« gesungen. Es handelt von ebendiesem Hochhaus und lief in unserem Liederbuch unter »Pionierlieder«:
»Es wächst in Berlin, in Berlin an der Spree
ein Riese aus Stein in der Stalinallee.
Es ist ja kein Luftschloss, das kann es nicht sein
und wächst doch bis hoch in den Himmel hinein.«
Der Text stammt von Erika Engel, die Musik von Emil Poletzky. Ich kann alle vier Strophen dieses Liedes noch heute singen. Und nun waren wir hier, im großen Berlin und bestaunten die hohen Häuser, vor allem natürlich das von uns besungene, welches bis in den Himmel ragte. Na ja, ich fand ja schon mein zweistöckiges Wohnhaus sehr hoch. Morgens um 7.00 Uhr klingelten wir beglückt an den Gegensprechanlagen der Häuser. So eine tolle, moderne Erfindung! Doofe Berliner, keiner antwortete uns …
Elke und ich waren selbstverständlich im