Im zweiten Stock wohnte Dr. Rosenthal, ein Zahnarzt. Wir durften mit seiner Tochter Dagmar spielen. Das taten wir mit großer Freude in den Trümmern eines ehemaligen Nachbarhauses. Es gibt ein Foto davon. Mutti knickte die vielen Trümmer auf dem Foto weg, so dass nur wir drei Kinder zu sehen sind. Ich protestierte, weil auf diesem »Spielplatz« Unmengen an Steinen lagen, aus denen wir die schönsten Schlösser und Burgen bauten.
Urte, Zahnarzttochter Dagmar und Elke in den Trümmern
Dr. Rosenthal hatte eine Haushälterin, die mir als sehr nett in Erinnerung blieb. Nicht nur weil sie uns in der Ofenröhre Bratäpfel zubereitete. Die ersten Bratäpfel meines Lebens, ein Traum! Einmal halfen Elke und ich beim Krabbenpuhlen. Da musste wohl irgendein Kutter gestrandet sein. Vielleicht wurde Verderbliches für wenig Geld abgegeben, denn die Massen an Krabben hätte es sicher nicht normal zu kaufen gegeben. Da gingen fünf Krabben ins Töpfchen und eine ins Kröpfchen. Ich esse sie heute noch gern.
Als ich drei Jahre alt war, zogen wir um die Ecke, in die Bauhofstraße. Eineinhalb Zimmer in der zweiten Etage, was für eine Verbesserung! Über eine Stiege ging es hinauf zur Küche, die auf dem Boden in einer Kammer eingerichtet war. Dort befand sich auch die Luke mit der »weiten« Aussicht auf »die Welt«.
Aus dem Wohnzimmerfenster sahen wir auf das Haus mit unserer ersten Bleibe und konnten die Fenster der Zahnarztwohnung sehen. Es gab eine Zeit, da guckte die Mutti ständig auf diese Fenster. Auf meine Frage, warum sie das mache, antwortete sie: »Der Doktor hängt irgendwann ein weißes Tuch ins Fenster, dann weiß ich Bescheid.«
Später erfuhr ich, es war das Zeichen für die Mutti, dass Dr. Rosenthal in den Westen gegangen war. Ich wusste, Oma und Opa wohnen im Westen, Tanten auch. Das war ein Ort für mich, ohne tiefere Bedeutung. In der Bauhofstraße führten Treppen zur Haustür, auf denen wir oft saßen und die Leute beguckten.
Wirklich interessant fand ich es, aus dem Schlafzimmerfenster zu schauen. Von dort aus konnte ich den Kasernenhof der Russen sehen. Ich bewunderte die Soldaten, wenn sie Sport trieben.
Foto vom Haus mit besagtem Fenster, das ich knipste, als ich im Wismarer Theater das Kinderprogramm spielte, beide Straßen sind zu sehen
Ganz besonders liebte ich es, wenn die Russen singend durch die Straßen marschierten. Gemeinsam mit den Nachbarskindern stapfte ich Pummel begeistert im Rhythmus mit und sang dabei lauthals: »Leberwurscht, Leberwurscht, die alte … Leberwurscht!«
Die Russen lachten, nahmen uns auf den Arm und neckten uns. Ich mochte sie sehr. Meine Mutti mochte sie nicht. Erst viel, viel später verstand ich, was sie damit meinte, wenn sie schimpfte: »Die Russen haben uns vertrieben, sie vergewaltigten die Frauen, nahmen allen die Uhren ab. ›Uri her!‹, riefen sie, immer wieder, ›Uri her!‹ Sie waschen Kartoffeln im Klo, unter Zuhilfenahme der Klospülung und schimpfen, wenn die dann verschwunden sind.«
Letzteres war überhaupt das Einzige, was ich verstand, eben weil es so lustig klang.
Ach ja, Wilhelm Pieck, dieser lieb aussehende Opa, den ich auf Bildern sah, war auch ein Russe. Das musste einer sein! So sagte es Mutti. Der kam auch von dort und die Russen hatten ihn als Präsidenten eingesetzt.
Eines Nachts weckte Mutti uns, wir mussten uns ganz schnell anziehen, Mutti packte Koffer, dann gingen wir in den Hausflur und setzten uns auf die Treppe. Wir saßen die halbe Nacht dort, bis Mutti überzeugt war, dass es wirklich nur ein Gewitter war. Zwar ein sehr starkes, aber zum Glück kein Geschützdonner.
In der Nähe unserer Wohnung befand sich ein Park, der Lindengarten. Ein Teil des Parks wurde für die Bevölkerung in Parzellen aufgeteilt, zum Anbau von Gemüse. Wir bekamen auch ein Beet und Mutti pflanzte Kartoffeln an. Ich weiß allerdings nicht mehr, ob wir jemals welche ernteten.
Aber ich erinnere mich noch genau an den Geruch von Haferflockensuppe oder Milchnudeln. Die holten wir in einer Milchkanne von den Nonnen. Irgendwo in der Nähe muss ein Kloster oder ein Pflegeheim gewesen sein. Über allem schwebte ein leichter Duft von Vanille.
Auf dem Rückweg schwenkten wir manchmal mit dem Arm die Kanne im großen Bogen. Taten wir dies schnell genug, klappte es. Ich war hin und wieder zu langsam. Musste dann zurück, noch einmal nachfüllen lassen und stammelte etwas von Hingefallen und Ähnliches, was mit Nudelsuppe im Haar nicht unbedingt glaubhaft war. Auch wenn wir Brot holten, galt: Es kam nie zu Hause an, ohne dass der Kanten angeknabbert war.
Sonntags gab es Stippchen. Das war Weißbrot, in Streifen geschnitten, in Milch getunkt und dann in Zucker gewälzt, herrlich! Oder mein »Schiebe-Brot«: Eine Stulle mit Streichwurst aß ich, indem ich mit den Schneidezähnen den Belag wegschob, bis zum letzten Happen. Der war dann ein Hochgenuss. Ein Häppchen mit einem riesigen Berg Belag!
Auch unser Spielplatz in der Nähe des Bahnhofs blieb mir in Erinnerung. Vor allem dadurch, dass dort eines Tages ein Güterzug auf einen anderen auffuhr. Wir hörten einen gewaltigen Krach. Als wir hinguckten, sahen wir eine dicke, dunkle Flüssigkeit aus einem Waggon fließen. Irgendjemand entdeckte: »Das ist Sirup!«
Auch ich kippte nun rasch den Sand aus meinem Eimerchen, rannte zum Waggon und ließ den Sirup in den Eimer tropfen. Der Sand störte offenbar nicht unseren Genuss, das wüsste ich bestimmt noch.
Bald ging ich in den Kindergarten, meine braune Stullentasche umgehängt. Allmorgendlich freute ich mich auf meinen Freund, den dicken Horst. Der hatte in seiner Stullentasche manchmal Kuchen. Hin und wieder gab er mir etwas davon ab. Sein Vater war Bäcker – und ich beschloss: Ich werde Bäckersfrau!
Eines Tages kam Horst mit einem Gipsbein an. Er ließ sich von mir auf der Schaukel anschubsen und ich weinte für ihn. Er tat mir leid, weil er sich so wehgetan hatte. Die Kindergarten-Tante sagte tröstend: »Bis zur Hochzeit ist das längst wieder gut.«
Elke hatte wegen ihres gelähmten Beins für kurze Zeit einen Rollstuhl bekommen. Dieses Gefährt war äußerst spannend. Ich schob Elke mit Begeisterung. Ganz in der Nähe erhob sich ein mit Gras bewachsener Hügel. War das eine Freude! Ich stellte mich hinten auf den Rollstuhl, und wir rollten den Hügel hinunter: Juchuuuu!
Das ging so lange, bis uns eines Tages am Fuße des Hügels der Rollstuhl umkippte. Wir kullerten beide auf die Wiese, und die Leute schimpften mit mir. Ich verstand das nicht. Das war doch nicht schlimm. Keiner von uns hatte sich wehgetan. Was ich daraus lernte: Die Erwachsenen haben keine Ahnung und können richtig gemein sein!
Ich muss dazu sagen: Für mich war Elke immer völlig normal, nur eben anders als ich. Eine meiner Puppen war auch anders. Sie hatte einen Porzellankopf, durch den ein Riss ging. Ich liebte diese Puppe nicht weniger als jede andere Puppe, die ich bekam. Genauso wie die braune mit den schwarzen Locken und die Stoffpuppe ohne Arm. Sie alle waren irgendwie anders, aber völlig in Ordnung. Jede für sich etwas ganz Besonderes und ganz besonders geliebt.
Zum dritten Geburtstag hatte ich allerdings eine bekommen, die ich nicht leiden konnte. Die kniff mich nämlich immer. Das war eine Gliederpuppe. Wenn ich der etwas anziehen wollte, egal ob Handgelenk, Unterarm, Oberarm – überall Möglichkeiten, mich zu kneifen. Und das tat sie leidlich. Also freute ich mich an meinem vierten Geburtstag über diese neue alte Puppe mit dem Riss quer durch ihr schönes Porzellangesicht.
Eines fand ich allerdings immer doof: Ich habe drei Tage vor Weihnachten Geburtstag, und oft hieß es dann: »Das Geschenk ist für Geburtstag und Weihnachten zusammen.« Häufig dann, wenn es sich um ein besonders großes Geschenk handelte. Meist gab es zum Geburtstag die Puppe und Weihnachten die Puppenkleider, Süßigkeiten und dergleichen mehr. Mutti strickte, häkelte und nähte noch und noch für unsere Puppen, oft bis tief in die Nacht. Sie schneiderte auch alle unsere Anziehsachen. Geld verdiente sie, indem sie für die ungeliebten Russen aus der unserer Wohnung gegenüberliegenden Kaserne Socken strickte.
Aus tiefem Herzen hasste ich allerdings die Kniestrümpfe, die sie für uns gestrickt hatte. Sie bestanden aus Zuckersackwolle, also aus